Alle potenzielle Täter

Schwerer Raub, schwerer Landfriedensbruch, gefährliche Körperverletzung – die Stuttgarter Staatsanwaltschaft lässt fast nichts aus, wenn es darum geht, Demonstranten vom 20. Juni zu verfolgen. Auch die Pressefreiheit ist da kein Hindernis

von Josef-Otto Freudenreich und Meinrad Heck

Irgendetwas läuft hier schief, und dieser Gedanke schießt der Frau wie ein Blitz ins Hirn. Die Herren vor ihr am Tisch wünschen wie aus heiterem Himmel eine erkennungsdienstliche Behandlung. Sie müsse sich fotografieren lassen und ihre Fingerabdrücke abgeben. Dabei war sie freiwillig in dieses Stuttgarter Polizeirevier an der Hahnemannstraße gekommen, um aus ihrer Sicht eine Geschichte zu erzählen.

Es ging um Stuttgart 21 und um diese Geschichte vom verletzten Zivilpolizisten an jenem Abend der Besetzung des Grundwassermanagement-Geländes vom 20. Juni. Sie will sagen, dass sie nahe dran gewesen sei, dass sie nichts von Faustschlägen oder Tritten gegen diesen Beamten mitbekommen habe. Dass es ganz anders gewesen sei. So lautet jedenfalls ihre Erinnerung, und jetzt das.

Stella Maris Duran, geboren in Argentinien, wohnhaft in Stuttgart, will Zeugin sein und sie ist kurz davor, selbst zu einer Beschuldigten zu werden. Dann kommt ihr blitzartig dieser Gedanke. Sie steht einfach auf und verlässt das Vernehmungszimmer. „Sie kriegen nichts von mir“, sagt sie den Beamten, „auch keine Fingerabdrücke.“ Spricht's, nimmt ein Tuch und putzt die Klinke der Tür, um damit ihre Fingerabdrücke wegzuwischen. Nichts sollte bleiben.

Tage später hat sich Stella Maris Duran eine Anwältin genommen. Ihre Geschichte hat sich bis zur Staatsanwaltschaft herumgesprochen. Die Polizei hat sich bei ihr entschuldigt. „Misslich“, sagt Staatsanwältin Krauth auf Anfrage, sei das gelaufen. Denn auf einem der vielen Dutzend Videos, die sich die Behörden im Internet angeschaut oder später bei Durchsuchungen beschafft hatten, war eben auch Stella Maris Duran zu sehen. Und weil sie zu sehen war, wie es heißt, „nah dran am Geschehen“ mit diesem verletzten Zivilbeamten, deshalb war sie im Radar der Polizei als „wichtige Zeugin“ aufgefallen.

Nur plötzlich schien, wie die Staatsanwaltschaft einräumt, „etwas ineinandergelaufen zu sein“. Der Übergang zwischen Zeugin und Beschuldigter war fast fließend: Die Anklagebehörde lässt durchblicken, dass nun einmal „potenziell jeder“, der seinerzeit hinter dem umgerissenen Zaun war, Beschuldigter in den Verfahren um vermeintlichen Landfriedensbruch werden könnte.

Ausgesprochen nett und höflich

Aber inzwischen, sagen die Zeugin Stella Maris und ihre Anwältin Simone Eberle, seien alle Beamten „ausgesprochen nett, höflich und zuvorkommend“. So nett, dass die Anwältin und ihre Mandantin schon wieder misstrauisch werden, was denn womöglich dahinterstecken mag.

Wenn Stella Maris zur Vernehmung gebeten wird, organisieren die Polizisten eine Fahrgelegenheit und auch schon mal eine Kinderbetreuung für ihr zwei Jahre altes Kind. Sie holen sie ab, und sie bringen sie wieder nach Hause. In den Minuten und Stunden dazwischen gibt es unzählige Fragen. Es geht um Faustschläge oder Fußtritte, um Videoaufzeichnungen, um die Frage, wer an jenem 20. Juni wann wo stand, wer was gesehen hat oder wissen kann. Und hinter alldem steckt der Verdacht auf einen veritablen und schweren Landfriedensbruch vieler hundert Menschen und noch dazu eine Larynxprellung mit kleinem Hämatom im Sinus piriformis rechts.

Das Fachchinesisch stammt aus einem ärztlichen Bulletin über den Gesundheitszustand jenes bewaffneten Zivilbeamten, der am 20. Juni, laut medialer Ferndiagnose, von S-21-Gegnern „halb totgeprügelt“ wurde. Der Mann erlitt eine Kehlkopfprellung, er war eine Nacht im Krankenhaus und wurde danach „ohne neurologische Auffälligkeiten“, wie geschrieben steht, entlassen. Es gibt keinen Zweifel: Wer einen Menschen mit voller Absicht gegen den Kehlkopf tritt oder schlägt, kann ihn töten.

Am 30. September vergangenen Jahres wurde ein Rentner im Stuttgarter Schlossgarten von einem Wasserwerfer fast blind geschossen. Andere schwer verletzt. Schuldhaft oder nicht? Falls ja, Schuld von wem? Geschädigt waren seinerzeit Demonstranten, geschädigt ist jetzt nach dem 20. Juni ein Polizeibeamter. Also reagieren die Behörden. Mit vielen Verfahren, mit Festnahmen, mit Hausdurchsuchungen. Es geht um einen der Ihren. So leitete die Staatsanwaltschaft in Windeseile ein Ermittlungsverfahren gegen unbekannt wegen versuchten Totschlags ein, später, in der abgespeckten Version, ein Verfahren wegen gemeinschaftlicher gefährlicher Körperverletzung. Gab es eine solche gemeinschaftliche Tat, und wenn ja, wie viele und wer genau gehörte zu dieser Gemeinschaft? Ein Tatverdächtiger, jener, der den Beamten laut Staatsanwaltschaft „mit der Faust mehrfach gegen den Hals, ins Gesicht und gegen den Hinterkopf schlug“, sitzt in Untersuchungshaft.

In ihrem Eifer, möglichst viele Beweise für den 20. Juni zu sammeln, sind die Strafverfolger jetzt auch auf Medienvertreter gestoßen. Konkret auf die Internet-Filmer von CamS21, eine zehnköpfige Gruppe von ehrenamtlichen Kameraleuten, die dem Protest gegen Stuttgart 21 zuzurechnen sind. Gegründet hat sie Tilo Emmert, ein 40-jähriger Informatiker, der als Schlüsselerlebnis den 30. September nennt. Damals, so sagt er, sei er vor der Frage gestanden: „Außen vor bleiben oder mittenrein.“ Emmert hat sich für Letzteres entschieden, die Kamera genommen und überall dort gedreht, wo sich die Bewegung bewegte. Auch am 20. Juni, hinter dem eingerissenen Bauzaun.

Das hätte er, laut Staatsanwaltschaft, nicht tun dürfen. Und deshalb stand sie, begleitet von vier Polizisten, am 12. August morgens um sechs Uhr vor seiner Tür. Er selbst war nicht da, statt seiner erhielt die Lebenspartnerin Auskunft über das Begehren des frühmorgendlichen Besuchs. Den Text konnte sie einem Durchsuchungsbeschluss entnehmen, dem zufolge gegen Emmert ein Ermittlungsverfahren wegen „schwerem Landfriedensbruch u. a.“ eingeleitet wurde.

Er stehe im Verdacht, so die Begründung, sich am Niederreißen des Bauzauns und an der Beschädigung der Baumaschinen und -materialien beteiligt zu haben. Dabei sei ein Schaden in Höhe von „ca. 1 Mio.“ Euro entstanden, allein am Bauzaun seien ca. 50.000 Euro zu beklagen. Darüber hinaus deute einiges darauf hin, dass der Beschuldigte über weitere Aufzeichnungen verfüge, die nicht über das Internet verbreitet worden seien. Motive also genug, seinen PC zu beschlagnahmen und die Regale zu durchforsten.

„Nichts von alledem stimmt“, kontert Emmert, er habe nicht mehr Material und habe nur das getan, was er als seine Aufgabe versteht: filmisch dokumentieren. Und das als Journalist, als den ihn sogar die Staatsanwaltschaft sieht. Seine Internetplattform, besagt der Durchsuchungsbeschluss, sei ein „journalistisches Angebot“ im Sinne des Paragraf 53 der Strafprozessordnung. Darin heißt es unmissverständlich, dass Journalisten ein Zeugnisverweigerungsrecht haben. Das greife aber, behaupten die Strafverfolger, ebenso wenig wie der Verweis auf Artikel 5 im Grundgesetz, der jedem das Recht zubilligt, seine Meinung in Wort, Schrift und Bild zu äußern. Denn: wer verdächtigt wird, „schweren Landfriedensbruch“ begangen zu haben, verwirke diese Rechte.

S-21-Protestplakat zwischen die Beine geklemmt

Uwe F. ist nicht bei der Presse. Er ist Elektriker. Ihm werden noch mehr Straftaten zur Last gelegt. Mit seiner Canon Power Shot 480 hat der 37-Jährige die Attacken auf den Zivilpolizisten dokumentiert. Auf Bildern, die auch der Polizei vorliegen, ist zu erkennen, dass Uwe F. mit der rechten Hand filmt und mit der linken versucht, die am Boden Kämpfenden auseinanderzuziehen. Zwischen die Beine hat er sich ein S-21-Protestplakat geklemmt. Laut Staatsanwaltschaft habe er außerdem gerufen: „Nehmt ihm jetzt die Knarre weg.“ Daraus schließen die Ermittler, dass sich Uwe F. die Waffe aneignen wollte und damit von einem „Verbrechen des versuchten schweren Raubes in Tateinheit mit gemeinschaftlicher gefährlicher Körperverletzung“ auszugehen sei.

Dieser Erkenntnis folgend, stand die Staatsanwaltschaft auch bei ihm vor der Haustür. Am 27. Juni, ebenfalls morgens um sechs, als er und seine Frau und die beiden Kinder gerade frühstücken wollten. Die fünf Beamten konfiszierten Laptop, Kamera und Handy plus Schuhe, Hose und Jacke, die er am 20. Juni getragen hat. Wegen der DNA-Spuren.

Uwe F. sagt, an diesem Tag sei für ihn „eine Welt zusammengebrochen“. Er könne hoch und heilig versichern, nie geprügelt zu haben. Er habe nur versucht, gemeinsam mit der Argentinierin Stella und einem 17-jährigen Mädchen die Kämpfenden zu trennen (auf www.kontext-wochenzeitung findet sich eine Fotosequenz dazu). Und vor der Waffe habe er schlicht Angst gehabt. Seitdem trägt er einen Button, auf dem steht: Zeuge – kein Täter.