Technokrat der Macht

BIOGRAFIE Talleyrand, der berühmteste Diplomat, hatte in sechs verschiedenen Regimen sechs führende Rollen

Seine Gegner beschimpfen ihn als lächerlich gepuderte Karikatur

VON ANDREW JAMES JOHNSTON

Die Revolution stellt den zentralen politischen Mythos der Moderne dar. Das klassische Modell bildet dabei die Französische Revolution von 1789 mit ihrer rapiden Radikalisierung und paradoxen Vollendung in einer imperialen Militärdiktatur. Schon Zeitgenossen sahen, dass die Revolution und besonders ihr zum Mythos stilisierter Konkursverwalter Napoleon ihre Epoche prägten.

Kein Wunder also, dass man immer wieder nach Gegenmythen zu Napoleon gesucht hat, nach Antipoden zu seiner dominanten Gestalt. Den faszinierendsten Entwurf eines solchen Gegenmythos bildet Charles Maurice de Talleyrand-Périgord (1754–1838), Napoleons zeitweiliger Außenminister.

Der Spross einer verarmten Adelsfamilie des Ancien Régime wählte die kirchliche Laufbahn, wurde oberster Finanzverwalter des Klerus, dessen Steuerprivilegien er verteidigte. Doch zu Beginn der Revolution wechselte der 35-jährige Bischof die Seite und empfahl die Verstaatlichung des Kirchenguts, was ihm den Hass der Anhänger des Ancien Régime einbrachte. Er schied aus der Kirche aus und heiratete später sogar. Rechtzeitig vor Ausbruch des Terrors ging er ins Exil, kehrte nach dem Ende der Jakobinerherrschaft zurück, diente der neuen Regierung als Außenminister und nutzte sein Amt, um durch Korruption und Spekulationen ein riesiges Vermögen anzuhäufen.

Erfolg und Karikatur

1799 beteiligte er sich an Bonapartes Staatsstreich und fühlte sich als dessen Mentor. Zunächst waren die beiden tatsächlich voneinander fasziniert, besaßen sie doch geradezu komplementäre Eigenschaften: Talleyrand war kultivierter Diplomat und brillanter Strippenzieher – Napoleon überragender Feldherr und Administrator, ein arbeits- und entscheidungswütiger Gestalter. Doch ihre politischen Auffassungen unterschieden sich zu sehr.

Napoleon trachtete primär nach Durchsetzung seines Willens und hielt Gewalt dabei für das probate Mittel. Talleyrand dachte in der Tradition des europäischen Staatensystems: Er strebte Frankreichs Vormachtstellung in Europa durch langfristige politische Strategien und diplomatische Absicherungen an. Nach acht Jahren als Napoleons Außenminister trat Talleyrand zurück und nahm Geheimkontakte zu Russland und Österreich auf, um den Widerstand der großen Mächte gegen Napoleon zu fördern. Als dieser stürzte, ebnete Talleyrand den Bourbonen den Weg zurück auf den Thron und sorgte auf dem Wiener Kongress dafür, dass Frankreich wieder im europäischen Mächtekonzert mitspielen durfte.

Bald aber schoben ihn die Royalisten ins politische Abseits, wo er zu einem Sprachrohr der Opposition wurde. In der Julirevolution von 1830 agierte Talleyrand einflussreich im Hintergrund und half als Botschafter in London eine internationale Krise um den neuen Staat Belgien abzuwenden. Mit 80 Jahren zog er sich dann aus der Politik zurück.

Talleyrand, der fast fünfzig Jahre lang in der französischen Politik eine wichtige Rolle spielte, polarisiert noch heute. Viele Biografen feiern ihn regelmäßig als weit blickenden Strategen, den kurzsichtige Neider daran hinderten, die absolute Spitze zu erklimmen.

Seine Gegner wiederum beschimpfen ihn als prinzipienlos und korrupt, als lächerlich gepuderte Karikatur des vorrevolutionären Adligen, der sich in der romantischen Epoche längst überlebt hatte und dessen politisches Wirken weder so prinzipienfest noch so erfolgreich war, wie seine Bewunderer behaupten.

Keine alten Legenden

In seiner ausgezeichneten Biografie Talleyrands findet der ehemalige Feuilletonchef der Süddeutschen Zeitung und Frankreich-Kenner Johannes Willms einen klugen Mittelweg. Nicht ohne Sympathie, aber dennoch kritisch blickt er hinter die Maske von Talleyrands Selbststilisierungen, lässt sich von den vielen überlieferten Anekdoten und Bonmots nicht blenden und räumt mit diversen von Talleyrand selbst gepflegten Legenden auf, so etwa mit der von der ungewöhnlich unglücklichen Kindheit oder dem erzwungenen Eintritt in die Kirche.

Zugleich gelingt es Willms mit analytischem Gespür, die Grenzen Talleyrands aufzuzeigen. Geprägt von der aristokratischen Welt vor der Revolution und den Gedanken der Aufklärung, erschuf sich Talleyrand als ein künstliches Gebilde, das Zeitgenossen sowohl beeindruckte als auch abstieß.

Trotz seines glänzenden Scharfsinns gab er sich immer wieder fatalen Illusionen hin, etwa der, dass er Napoleon würde lenken können oder ihn die Royalisten auch dann noch dulden würden, wenn sie erst einmal wieder an der Macht wären.

Das Beeindruckende an Willms’ Deutung ist, dass der auf menschliches Maß gestutzte Talleyrand viel interessanter wird als das überlieferte Klischee vom genialen Meisterdiplomaten, der Napoleon als Einziger die Stirn zu bieten vermochte.

Johannes Willms: „Talleyrand. Virtuose der Macht 1754–1838“. C. H. Beck, München 2011, 384 Seiten, 26,95 Euro