Die krassesten Freaks

Wo einst Hippieschamanen ganz befreit die Anarchie feierten, amüsiert man sich heute trotz Überwachungskameras. Julien Temple hat einen zwiespältigen Dokumentarfilm über das legendäre Glastonbury-Festival gedreht, zu sehen im fsk

VON ANDREAS HARTMANN

Sommer ist Festivalzeit. Wer mag, kann sich derzeit wieder jedes Wochenende auf einem anderen Acker an Dixiklos anstellen und, wenn das Wetter mitmacht, sich vor der Hauptbühne im Schlamm wälzen. Das Festival kommt jetzt sogar ins Kino, und zwar in Form von Julien Temples Dokumentation „Glastonbury“, die die Geschichte und Entwicklung der ältesten immer noch stattfindenden und größten Freiluftmusikveranstaltung aufzeigt. Man könnte Glastonbury die „Mutter aller Festivals“ nennen, wäre dieser Titel nicht bereits an Woodstock verliehen worden.

Temple, von dem erst vor kurzem ein Film über Joe Strummer in die Kinos kam, wollte mit „Glastonbury“ weniger einen Konzertfilm machen als vielmehr die Veränderung einer typisch englischen Institution nachzeichnen, einem Wimbledon für die englische Jugend, die sich an einem geschichtsträchtigen Ort niedergelassen hat. Der Legende nach liegt hier König Artus begraben. Temple stellt sich nun die Frage, ob und wie sich auf diesem Festival der viel beschworene Glastonbury-Spirit aus Anarchie, DIY-Ethos, Schamanismus und Hippieidealen wenigstens einigermaßen erhalten hat. 1971 wurde das Musikfest erstmals von einem Bauern auf seiner Farm für ein paar Hippies veranstaltet, heute kommen jährlich 150.000 Besucher. Und so hat Glastonbury, wie alle Veranstaltungen, die sich mit den Jahren kommerzialisiert und professionalisiert haben, natürlich mit Vorwürfen zu kämpfen: dass früher alles besser war und heute das Geldverdienen wichtiger sei als das versprochene Gemeinschaftsgefühl.

Temple selbst weiß aber nicht so recht, welche Position er einnehmen soll. Einerseits will er durch Parallelmontagen von Bildern vergangener Tage mit denen aus jüngster Zeit deutlich machen, dass Spaß und freak out heute genauso möglich sind wie früher, was sich als Absage gegen einen grassierenden Kulturpessimismus deuten lässt. Andererseits gibt die Dokumentation der Etablierung von Kontrollmechanismen auf dem Festival großen Raum. Bilder von Polizeieinsätzen und sich als in ihrem Freiheitsgefühl eingeschränkt beschreibenden Besuchern zeigen, dass Anarchie kaum mehr möglich ist an einem Ort, der inzwischen von Überwachungskameras und von einem riesigen Zaun umgeben ist, der 2001 errichtet wurde.

Abgesehen von der Suche nach dem Spirit und dessen Verflüchtigung bietet „Glastonbury“ jedoch keine weitere Erzählung an und verliert sich irgendwann in einem Bilderwust aus kurzen Konzertschnipseln und skurrilen Impressionen des Treibens vor der Bühne. Das ergibt am Ende eine Collage aus den irrsten Porträts der krassesten Freaks, die an die Geschichten erinnern, die jeder Festivalbesucher stets zum Besten zu geben weiß und von denen man so fasziniert wie auf Dauer gelangweilt ist.

900 Stunden Film hat Temple zusammengetragen, aus seinen eigenen Kameras stammend, aber auch Aufnahmen, die ihm aus privaten Händen und einer frühen Glastonbury-Dokumentation von Nicolas Roeg zur Verfügung gestellt wurden. Aus 900 Stunden wurden etwas über zwei, die immer noch zu lange sind. Die Woodstock-Dokumentation geht noch viel länger, und auch in ihr spielt ein Zaun eine Rolle, doch ist sie kurzweiliger, weil sich in ihr neben all den Hippieimpressionen auch mal die Faszination Musik entfalten darf. Temple deutet dies immer nur kurz an, doch bevor man eine Ahnung davon bekommt, warum Popmusik so sinnstiftend für eine bunte Menge an Menschen sein kann, widmet sich der Film schon wieder ganz ausschließlich der bunten Menge. Dabei hätte man gerne noch mehr davon gesehen, wie die Chemical Brothers mit ihrem „Hey Boy Hey Girl“ das Publikum in den Wahnsinn treiben.

„Glastonbury“. Regie: Julien Temple. Großbritannien 2005, 135 Minuten. Bis 22. August im fsk am Oranienplatz