TAZ-ADVENTSKALENDER: RUDI-DUTSCHKE-STRASSE 23
: Auf in die Vertikale!

23. DEZEMBER Jedes Haus hat eine Nummer. Doch was dahintersteckt, wissen nur wenige. Zum Glück gibt es Adventskalender: Da darf man täglich eine nummerierte Tür öffnen – und sich überraschen lassen

Als 1989 das taz-Haus in der heutigen Rudi-Dutschke-Straße 23 gekauft wurde, veränderte dies Organisation und Bewusstsein des Kollektivs gründlich: In der Fabriketage in der Wattstraße 11, wo die taz bisher saß, war alles auf einer Ebene gewesen; fortan verteilten sich die Abteilungen auf sechs Etagen. Die Umorientierung von der Horizontalen in die Vertikale ging nach der Genossenschaftsgründung 1992 immer weiter: mit ChefredakteurIn, Ressortleiter, stellvertretenden Ressortleitern usw.

Gleichzeitig verschwand der Anspruch, die Trennung von Hand- und Kopfarbeit zu überwinden. Das ging so weit, dass extra jemand bestimmt wurde, der die zwei Kaffeemaschinen auffüllte, und eine externe Reinigungsfirma das Putzen übernahm. Zudem organisierte sich die Abo-Abteilung fast als Callcenter. Auch die einst umsonst von Senatsdienststellen abgestaubten Büromöbel wichen zunehmend schickeren Arbeitsplätzen. Ähnliches galt für die Elektronik.

Die erste (politische) taz-Generation bestand bewusst aus Nichtjournalisten. Mit dem Schlagwort „Professionalisierung“ änderte sich das dahingehend, dass sich fast alle Redakteure und Autoren in den Hybrid zwischen Wissenschaft und Alltag, sprich Journalismus einfanden. Das geht bis zum Gruner-&-Jahr- Schulformat „Reportage“ mit szenischem Einstieg und Personalisierung des jeweiligen gesellschaftlichen Missstands.

Gleichzeitig fand ein schleichender Wechsel vom Vorbild Libération zum Vorbild Guardian sowie von den harten zu den weichen Ideologien statt, den der französische Philosoph Jean Baudrillard beizeiten bereits so gesehen hatte: „Die Menschenrechte, die Dissidenz, der Antisemitismus und -rassismus, die Ökologie – das sind die weichen Ideologien, easy, post coitum historicum, zum Gebrauch für eine leichtlebige Generation, die weder harte Ideologien noch radikale Philosophien kennt. Die Ideologie einer auch politisch neosentimentalen Generation, die den Altruismus, die Geselligkeit, die internationale Caritas und das individuelle Tremolo wiederentdeckt. Herzlichkeit, Solidarität, kosmopolitische Bewegtheit, pathetisches Multimedia: lauter weiche Werte, die man im Nietzscheanischen, marxistisch-freudianistischen und Situationistischen Zeitalter verwarf.“

Baudrillard weiter: „Diese neue Generation ist die der behüteten Kinder der Krise, während die vorangegangene die der verdammten Kinder der Geschichte war. Diese jungen, romantischen, herrischen und sentimentalen Menschen finden gleichzeitig den Weg zur poetischen Pose des Herzens und zum Geschäft. Sie sind Zeitgenossen der neuen Unternehmer, sie sind wunderbare Medien-Idioten: transzendentaler Werbeidealismus. Dem Geld, den Modeströmungen, den Leistungskarrieren nahestehend, lauter von den harten Generationen verachtete Dinge. Weiche Immoralität, Sensibilität auf niedrigstem Niveau. Auch softer Ehrgeiz: eine Generation, der alles gelungen ist, die schon alles hat, die spielerisch Solidarität praktiziert, die nicht mehr die Stigmata der Klassenverwünschung an sich trägt. Das sind die europäischen Yuppies.“ Und die taz ist ihre Zeitung.

HELMUT HÖGE