Abendländische Kulturfracht

JAHRESRÜCKBLICK Welche Kulturerlebnisse bleiben vom Jahr 2014 im Gedächtnis? Fünf taz-Autoren blicken zurück – und vergessen auch das Unangenehme nicht

Wankendes Bild

Lehrreich war dieses Jahr das Konzert von Noveller im Hamburger Westwerk. Nur einen halben Gedanken habe ich daran verschwendet, selbst hinzugehen, habe die New Yorker Künstlerin aber in der taz mit warmen Worten dem Publikum empfohlen. In angenehmen Farben wurde sie von mir getaucht, hinsichtlich ihres Charakters und ihrer Musik.

Kurze Zeit später erreichten mich Berichte, die dieses Bild ins Wanken brachten. Wie ich seitdem weiß, interessieren sich Veranstalter nicht nur für den warmen Ton, sondern genauso für die zwischenmenschlichen Qualitäten der Künstlerin. Sie müssen ihr schließlich auch hinter der Bühne beiwohnen, sie verpflegen, mit ihr Small Talk machen.

Kurz gesagt: zur dann doch nur mittelprächtigen Musik gesellten sich Berichte von einer umfassend unfreundlichen Person, die mein Bild zum Zusammensturz brachten. Öfter mal zu Hause bleiben, kann ich da abschließend nur sagen – in meine und in Ihre Richtung. NILS SCHUHMACHER

Falsche Konferenz

Während am Reisebus das verregnete Hamburg vorbeizieht, steht vorne ein Lobbyist mit einem Mikro und erzählt uns etwas von klimaschonenden Projekten und Hochtechnologie. Unsere Gedanken schweifen schnell ab, das kleine Entwicklungsland, das wir vertreten, hat das Geld für derartige Projekte sowieso nicht. Also lehnen wir uns zurück und genießen die Fahrt.

Die nächtliche Bustour ist Teil des Theaterprojektes „Welt-Klimakonferenz“ am Deutschen Schauspielhaus. In der Performance von Rimini-Protokoll übernehmen Zuschauer nach dem Zufallsprinzip die Rollen der Delegierten. Als ich im großen Saal nach oben gucke, sitzt in der Loge hinter einer kleinen Fahne der Botschafter der USA, die würdig von einem bekannten Kollegen vertreten werden.

Überraschend, wie das zugeteilte Land seine Vertreter prägt. Beim Treffen der osteuropäischen Staaten lümmelt in der Mitte des Saals die russische Delegation. Später treffen wir die Italiener, die unser kleines Land benutzen wollen, um ihren Einfluss in der EU auszubauen. Mit echten Großmächten wie den Deutschen kommen wir kaum ins Gespräch. Wir sind hier Zaungast, dem wirklich nur ein einziges Druckmittel bleibt: Wir werden die Reduzierung des CO2-Ausstoßes möglichst hoch verkaufen, natürlich nur im Spiel. ALEXANDER KOHLMANN

Nicht geschafft

Viel los war jenseits von Familie und Lohnarbeit in diesem Jahr nicht bei mir. Text, Bild und Musik konsumiert man als junger Vater vor allem zu Hause. Manchmal schafft man es noch in die Eckkneipe. Auf den Getränkekarten von meiner steht: „Alles andere ändert sich.“

Konzerte, für die ich früher zu Fuß von Bremen nach Hamburg gelaufen wäre, habe ich versäumt. Besonders schade: Mutter und Bohren & der Club of Gore. Denn Mutter werden, nach einem für die Band offenbar desaströsen Abend im Bremer Lagerhaus im Jahr zuvor, wohl in Zukunft einen großen Bogen um meine Heimatstadt machen. Bohren zumindest spielen hier noch mal im Januar. Zu The Ex und Notwist hab ich es nicht mal mehr die paar Stationen mit der Straßenbahn geschafft. Überhaupt: der Stress, der Krach …

Was gut ging, war Kino. Thomas Elsaesser hat auf dem Bremer Filmsymposium einen eindrucksvoll mäandernden Vortrag zu Harun Farockis Film „Aufschub“ gehalten. Seitdem sehe ich Dokumentarfilme mit anderen Augen! Außerdem durfte ich meinen Lieblingskinderbuchautoren Andreas Steinhöfel interviewen, der mir am Telefon wertvolle Tipps für den Umgang mit über die Maßen nervtötenden Mitmenschen gegeben hat: „Und dann hab ich gesagt: Das ist mir völlig egal, ob du versichert bist oder nicht, dann läufst du halt unversichert vor den Bus, Hauptsache du stirbst.“ BENJAMIN MOLDENHAUER

Gesunkener Mythos

Rostock, 20. September 2014. Nicht lamentieren, sondern mit künstlerischem Elan punkten, so startete ein neues Team in die 120. Spielzeit: Am Rostocker Volkstheater wurde Wilhelm Dieter Sieberts Singtanzspiel „Untergang der ‚Titanic‘“ aufgeführt – in einem Bühnenbild, das deutlich macht: Der mit abendländischer Kulturfracht vollgetankte, unsinkbar geltende Mythos Volkstheater ist bereits gesunken.

Eine kunstvolle Provokation, gewinnt man doch andernorts den Eindruck, viele Mecklenburger würden die Institution gern mit einer Abwrackprämie loswerden. Wohl keine deutsche Bühne hatte sich durch Landes-, Stadt-, Spielplan- und Personalpolitik derart ins Abseits manövriert wie die der Rostocker.

Aber die Theatermacher sind bereit, die charmefreie Bruchbude am Patriotischen Weg als Hauptspielstätte zu behalten – und zahlen den Mitarbeitern per Haustarifvertrag bereits besonders wenig Lohn. Überlebenswille!

Der zeigte sich auch am Umfang dieses Saisonstarts: Nicht ein Stück führten die Rostocker auf, sondern drei – neben dem „Untergang der ‚Titanic‘“ die Roman- und Filmadaptionen „Ingrid Babendererde“ und „Wie im Himmel“. Das bot der Demut des Pessimismus die Stirn und heizten die Aufbruchsstimmung an.

Bejubelt wurden Vertreter aller Sparten, als sie weit nach Mitternacht – einen achteinhalbstündigen Arbeitsmarathon in den Knochen – ein „Es lebe das Volkstheater“-Banner schwenkten. Selten wirkte eine Demo wider den Abbau von Kulturangeboten derart überzeugend. JENS FISCHER

Großes Objekttheater

Von März bis Mai geschahen im Kunstverein in Hamburg merkwürdige Dinge: Ein Kaktus spielte Xylofon und eine Palme legte sich auf einem Kissen schlafen. Zu Klangcollagen, mal Rock, mal Politikerreden oder Hollywood-Songs, waren unter anderem eine Picasso-Vase, etliche Kippenberger-Tomaten und die Personifikation des Prostata-Krebses zu sehen. Türen knarrten, ein Besen trat auf und Vito Acconci lugte ab und an aus einer Mülltonne.

Dieses wundersam kombinierte elektromechanische Vaudeville-Theater war das bisher größte Projekt des 1967 in Vancouver geborenen kanadischen Künstlers Geoffrey Farmer. Als erste von der neuen Direktorin des Kunstvereins Bettina Steinbrügge verantworte Schau war diese akusto-elektro-mechanische Skulptur-Performance ein beindruckender Einstieg und eine der besten Hamburger Ausstellungen des Jahres.

Das aleatorische Spielfeld mit über 70 meist animierten Objekten war eine Hommage an Frank Zappa, nutzte dessen Biografie, Musik und Montagetechnik. Schon der Titel „Let’s make the water turn black“ referiert auf einen seiner Songs, in dem die Jungs aus der Nachbarschaft vor Langeweile versuchen, aus Rosinen Schnaps zu brennen.

Bei allem Spaß sind auch die in Zappas Lebenszeit von 1940 bis zum Krebstod 1993 fallenden politischen Kämpfe von Pearl Harbor bis Vietnam akustisch präsent. Und Bibo aus der Sesamstraße war auch da: Kekse und einen Toast auf den Kunstverein für diese intelligente Show!  HAJO SCHIFF