: Ballett-Dekonstruktionen
Heute Abend startet das Festival „Tanz im August“: In vielen Stücken spiegelt sich ein neu entdecktes Interesse an der Tanzgeschichte – ein Zeichen für das Selbstbewusstsein des zeitgenössischen Tanzes
VON KATRIN BETTINA MÜLLER
Michael Laub ist aufgeregt: Nur noch vier Tage sind es bis zur Uraufführung seines neuen Stücks „Portrait Series Berlin. Professional and non-professional Dancers“ beim „Tanz im August“.
Ob sich das Publikum mit seiner Arbeit auch unterhalten wird?, fragt er sich nervös und zieht an seinen langen Locken.
Unterhaltend und spektakulär waren die Stücke des belgischen Choreografen, der in den letzten zehn Jahren sicher fünf- oder sechsmal beim Berliner Tanzfest dabei war, eigentlich immer. Doch diesmal, denkt er, kommt es ihm auf kleine und feine Unterschiede an. Mit fünf Personen hat er ein Porträt erarbeitet: Unter ihnen sind die Tänzerin Astrid Endruweit, mit der er schon viele Solos gemacht hat, aber auch Robert Gather, der im Hebbel-Theater bisher vor allem als Kartenverkäufer tätig war. „Ich habe sie ausgewählt“, sagt Laub über seine professionellen und nicht-professionellen Performer, „gerade weil sie so unterschiedlich sind und jeder eine ganz andere Form für seine Geschichte braucht“.
Mit der Berliner Porträtserie setzt Michael Laub eine Arbeit fort, die er vor einigen Jahren in Hamburg begann: mit allen möglichen Theaterarbeitern, Schauspielern, Fahrern, Technikern und der Putzfrau, die nach der Vorstellung die Bühne wischt. Seitdem hat ihn die Neugier auf die heterogenen Formen der Selbstrepräsentation nicht mehr losgelassen: Zwischen den Polen der Selbstvergessenheit und der Selbstinszenierung, der Intimität und der Öffentlichkeit schafft er dafür immer neue Rahmen. Letztes Jahr gab Laub, der zurzeit eine Gastprofessor für Tanz und Performance an der FU in Berlin hat, dazu einen Workshop während des Festivals. Das war der Ausgangspunkt für das diesjährige Berliner Stück.
Michael Laub ist nicht der Einzige, der mit den Lebensgeschichten seiner Performer arbeitet. Zum ersten Mal dabei ist der französische Choreograf Jean-Claude Gallotta aus Grenoble. „Sein Stück „Des Gens qui dansent“ handelt ganz einfach vom Tanzen und ist dabei großes Theater“, sagt Ulrike Becker, langjährige Kuratorin des Festivals, die sich freut, Gallotta nach Berlin gelotst zu haben. In seinem Stück kommen Profitänzer verschiedener Generationen zusammen in einer sehr bewegten Gruppenchoreografie. Und wieder sind gerade die feinen Unterschiede entscheidend, mit denen sie die gleichen Bewegungen interpretieren. „Es ist erstaunlich“, sagt Ulrike Becker, „wie viel von der Person, ihrer Lebenserfahrung und ihrem Alltag gerade darin aufscheinen kann, wie sie sich bei der Ausführung einer abstrakten Bewegung von den anderen unterscheidet.“
20 Produktionen, darunter zwei Uraufführungen und elf Deutschlandpremieren, werden während der nächsten 16 Tage über die Bühnen im HAU, Podewil, den Berliner Festspielen, den Sophiensälen, im Radialsystem (und weiteren) gejagt. Neun der Choreografen konnte man vorher zu einem Vorgespräch in der kanadischen Botschaft, einer von vielen Partnern des Festivals, treffen. Dabei war auch Edouard Look, der weltberühmte Star aus Montreal, der sich mit seiner Compagnie LaLaLa Human Steps und dem Komponisten Gavin Byars über Tschaikowskys Schwanensee und Dornröschen hergemacht hat. „Diese Stücke sind Teil unseres kollektiven Gedächtnisses, und mit dieser Erinnerung will ich arbeiten“ sagt er. „Die Technik der Klassik ist voller Optionen.“ Es geht ihm nicht nur um die Dekonstruktion der Ballette. Sondern auch darum, die Konflikte, die sie behandeln, wieder in die Gegenwart zu holen.
Auch die beiden amerikanischen Choreografinnen Yvonne Rainer und Sarah Michelsen werden sich mit Traditionen des Tanzes und des Balletts auseinandersetzen. Yvonne Rainer, geboren 1934, Avantgardistin des modern dance und experimenteller Filmformen, hat sich das berühmte Stück „Sacre du printemps“ vorgenommen, ein Ballettskandal von 1913. Für Ulrike Becker ist dieses Interesse an der Tanzgeschichte, das sich seit drei, vier Jahren aufbaut, ein Zeichen für das Selbstbewusstsein des zeitgenössischen Tanzes. „Er muss sich nirgendwo mehr abgrenzen und kann spielerisch und entspannt, ja sogar affirmativ mit dem Material umgehen. Alles steht zur Verfügung.“
„Alles steht zur Verfügung, solange man Teil der westlichen Welt ist“, denkt sich dagegen Sasa Asentic, der jüngste der geladenen Performer, der aus Novi Sad in Serbien kommt. In einer Art Lecture Performance „My private Biopolitics“ will er nach der westlichen Definitionsmacht im zeitgenössischen Tanz fragen. „Ich muss über die Unmöglichkeit reden, in Serbien zeitgenössischen Tanz zu produzieren und nach den Gründen fragen, warum man mich trotzdem nach Berlin eingeladen hat. Was der Auftrittsort und die Produktionsbedingungen für ein Stück bedeuten, interessiert mich. Ein Thema wird sein, wie ich mich in Serbien informieren kann. Ein anderes, wie man Techniken verstehen und als eigenes Instrument zu benutzen lernt, ohne sie zu kopieren.“ Sasa Asentic wird auch vorführen, was er meint. Studiert hat er übrigens Agrarökonomie und Pädagogik. Unter die Menschen, die tanzen, ist er als Autodidakt gekommen.
Heute Abend eröffnet das Festival im HAU mit Anne Teresa De Keersmaeker und ihren Rosas, die, auf den Spuren ihrer eigenen Geschichte, wieder mit der minimalistischen Musik von Steve Reich arbeiten. Die eigene Choreografiegeschichte als Material für eine Relektüre zu begreifen – auch das ist eine Entwicklung der letzten Jahre, die auf diesem Festival sichtbar wird. Und nicht zuletzt eine, zu der das Festival, das jetzt zum 19. Mal stattfindet, selbst beigetragen hat. Denn hier sind viele mit den Rosas oder LaLaLa Human Steps auch zum ersten Mal bekannt geworden.
Programm: www.tanzimaugust.de
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