Irritationen im Indizienprozess

Eine 23-Jährige steht vor dem Landgericht, weil sie ihr Baby ausgesetzt haben soll. Doch es gibt Zweifel an der Version des Staatsanwalts

Das Baby war viel zu dünn angezogen. Ohne Mütze, nur mit Strampler, Shirt und einer Socke bekleidet, lag es am 16. November 2006 unter einem am Straßenrand geparkten Auto. Gegen Mittag hörte eine Passantin auf dem Weg zum S-Bahnhof Schöneweide in Köpenick zufällig ein leises Wimmern. Beherzt zog sie das Kind hervor. „Es war hinter einem Reifen festgeklemmt“, sagt Bärbel B. vor dem Landgericht, wo der Fall verhandelt wird.

Die Zeugin berichtet davon, wie sie den fünf Monate alten Jungen auf dem Arm hielt und dabei eine blutunterlaufene Beule an seinem Kopf bemerkte. Es war nicht die einzige Verletzung. Fünf Tage später starb Santino an den Folgen eines schweren Schädel-Hirn-Traumas. Nun versucht die 22. Große Strafkammer in einem Indizienprozess herauszufinden, ob die Mutter des Kindes, Sabrina R., des Totschlags schuldig ist. So eindeutig, wie der Staatsanwalt den Fall beurteilt, scheint er nicht zu sein.

Lautlose Tränen

Sabrina R. ist eine füllige Frau mit rundem Gesicht, das von kinnlangen, aschblonden Haaren eingerahmt wird. Scheinbar reglos verfolgt die 23-Jährige das Prozessgeschehen, doch zuweilen überziehen rote Flecken ihr Gesicht – es sind die wenigen Minuten, in denen ihre Tränen lautlos fließen. Sie besuchte eine Gesamtschule in Adlershof und kam schon während der Schulzeit mit Drogen in Kontakt, berichtet ihre ehemalige Schulfreundin Yvonne R. dem Gericht. In einer Kriseneinrichtung lernte sie den späteren Vater von Santino kennen. Es war eine komplizierte Beziehung, geprägt von Drogen, Alkohol und Gewalt, sagt ihr Verteidiger Mirco Röder. So soll Benjamin W. seiner schwangeren Freundin eine Spraydose auf den Bauch geworfen haben.

Bis Anfang September wohnte das Paar in einer Reinickendorfer Wohnung. Dann beherzigte Sabrina R. den Rat der dortigen Jugendamtsdirektorin und trennte sich aufgrund der andauernden Konflikte von ihrem Lebensgefährten. Danach wohnte sie mit ihrem Baby kurz bei ihren Eltern in Niederschöneweide. Sechs Wochen später zog sie in die Brückenstraße in Köpenick, zehn Minuten Fußweg von ihrem Elternhaus entfernt.

Sabrinas Auszug aus der Reinickendorfer Wohnung war auch eine Flucht vor ihrem Exfreund. „Danach wollte meine Tochter nichts mehr mit ihm zu tun haben, und niemand sollte ihm sagen, wo sie wohnt. Daran haben sich alle gehalten“, sagt Sabrinas Mutter dem Gericht. Sie gibt an, Benjamin W. habe einmal wöchentlich bei ihr angerufen. Immer drohender habe er sich nach Sabrinas Adresse erkundigt. Das letzte Mal meldete er sich an jenem Novembertag, zwei Stunden nachdem Santino gefunden wurde, erinnert sie sich. „Wenn ich ihm die Adresse nicht sage, schickt er mir die Mafia auf den Hals“, so die Zeugin. Weil Benjamin W. angeblich nicht wusste, wo seine Exfreundin wohnt und an Santinos Kleidung keine DNA-Spuren von W. gefunden wurden, schied er für den Staatsanwalt als Täter aus. Im Prozess tritt er nun als Nebenkläger auf.

Doch trotz aller Geheimhaltung muss Benjamin W. die Adresse seiner Exfreundin herausgefunden haben. Das stellte sich vor zwei Wochen bei der Zeugenvernehmung von Yvonne R. heraus: Die ehemalige Schulfreundin arbeitet im Friseursalon „Cut & Go“, der sich im selben Haus befindet, in dem Sabrina R. drei Wochen wohnte und vor dessen Eingang Santino gefunden wurde. Yvonne R. sagt, Santinos Vater wäre „ein, zwei Tage“ vor der Tat im Salon erschienen. „Er fragte, ob sie da ist.“ Der Richter wird hellhörig: „Wusste er, dass sie da wohnt?“, fragt er die Zeugin. „Denk ich, sonst würde er ja nicht fragen“, lautet die Antwort. Zum heutigen Verhandlungstag hat das Gericht eine weitere Friseurin als Zeugin für jenes bedeutungsvolle Gespräch eingeladen.

Seltsame Aussagen

Und noch ein Umstand klingt merkwürdig: So berichtet Benjamins Stiefvater dem Gericht von einem Telefonat mit W. am Mittag des Tattages. Am Telefon erzählte W. seinem Stiefvater, er habe im Radio von einem Unglück mit einem Kind gehört und mache sich nun Sorgen, es könne sich um seines handeln. Sabrinas Eltern würden doch in dieser Gegend wohnen. Der Stiefvater beruhigte ihn damals mit der Auskunft, es gebe doch so viele Kinder. Die Polizeimeldung über den Fund von Santino ging aber erst fünf Stunden später, gegen 18.45 Uhr, an die Presse, recherchierte Verteidiger Röder. Der Anwalt will dem Gericht noch mehr Entlastendes präsentieren: „Eine Zeugin hat zur Tatzeit in unmittelbarer Nähe des Fundortes einen Mann gesehen.“

Diese Aussagen und die Zweifel, ob eine Täterin ihre Tat, nämlich das Kind vom Auto überrollen zu lassen, direkt vor der eigenen Haustür inszenieren würde, sorgen für Verwirrung in dem Prozess. Sabrina R. bezichtigte gegenüber der Polizei ihren Exfreund der Tat. Doch sie will mit ihrer Aussage warten, bis sich der Vater vor Gericht geäußert hat. Das soll am 14. September geschehen. UTA FALCK