: Parallelwelt hinter den Büschen
BERLIN UNDERGROUND Lothar Lamberts Film „Tiergarten“ kommt nach 20 Jahren in restaurierter Fassung erstmals wieder ins Kino, in der Brotfabrik
In einer autobiographischen Miniatur erinnert sich Walter Benjamin an den Tiergarten: „Sich in einer Stadt nicht zurechtfinden heißt nicht viel. In einer Stadt sich aber zu verirren, wie man in einem Walde sich verirrt, braucht Schulung.“ Die grüne Lunge Berlins stellt für Benjamin ein Labyrinth dar, der Park sei ihm mit „Schwierigem, Undurchführbarem verstellt“ - der Verlust der Orientierung wird zum erstrebten Ideal, einem rauschartigen Zustand, damals noch geprägt von kindlicher Unschuld. Doch waren es die Anfänge einer Kunst, die er spät erlernt habe, so Benjamin. Zwar ist es nicht bekannt, ob Benjamin später zum Cruisen in den Tiergarten gegangen ist, doch das Streben wider die Ratio legt den Wunsch nach gleichzeitiger Befreiung eines Triebes doch irgendwie nah.
Lothar Lambert lässt in seinem Film „Tiergarten“ die verirrten Seelen der Stadt ihren Trieben folgen, ohne aber die Kunst des Sich-Verlierens sehnsüchtig zu verklären. Inspiriert ist der Film durch den bis heute ungeklärten Tod der Kabarettistin und Schauspielerin Ursula Herwig, deren Leiche 1977 in der Tiergartenschleuse gefunden wurde. „Man fragte sich, was die da Nachts zu suchen hatte“, erinnert sich Lambert. Ein Sexualmord? In Lamberts Welt scheint das möglich.
Dabei ist „Tiergarten“ kein Versuch einer Rekonstruktion des Verbrechens, sondern vielmehr ein (Un-)Sittengemälde Westberlins Ende der 1970er Jahre. Der Park ist Treffpunkt und Zuflucht für die verlorenen Bewohner der Stadt, für Außenseiter, für Schwule, Ausländer und Nutten. Hier begegnen sich ihre Wege und Körper, hier grüßen sie sich aus ihrer Einsamkeit heraus, hier versuchen sie ihre Probleme hinter sich zu lassen. Die Schicksale der Figuren verdichten sich zu einer Parallelwelt, gerahmt von den Büschen der Verheißungen und der Gefahren.
Lothar Lambert ist wohl – neben Klaus Lemke – einer der wenigen wirklichen Underground-Filmemacher in Deutschland. Und so ist „Tiergarten“ ein Bastard aus Episoden- und Experimentalfilm, inhaltlich und stilistisch von faszinierender Eigenwilligkeit. Im gewerklichen Alleingang hat Lambert den Film 1979 realisiert, die meiste Zeit ohne richtiges Drehbuch: Wer von den Darstellern Zeit und Lust hatte, fand sich am Drehort ein.
Neben der Berlinale-Fotografin Erika Rabau stand auch Ulrike S., die später in Lamberts Filmen „Die Alptraumfrau“ oder „Fucking City“ etwas Untergrund-Ruhm erlangte, hier zum ersten Mal vor seiner Kamera. In den meisten Szenen ist der Ton (geschuldet der Personalunion) nachträglich eingesprochen - auch wenn die Darsteller ihren Mund gar nicht bewegen. Hinzu kommen Belichtungsfehler, viel Musik und noch mehr Zwischenschnitte, die die Chronologie der Erzählung durchbrechen.
Doch eben der Mut zum Experimentellen lässt „Tiergarten“ auch heute noch erfrischend erscheinen. Und so, wie sich der Film stilistisch gegen das konventionelle Kino stellt, so geht er inhaltlich ebenfalls seinen eigenen Weg. Ohne larmoyante Kritik an der Anonymität der Großstadt wird hier mit Sympathie auf eigenwillige Figuren geblickt, die sich neben den ausgetretenen Pfaden der Gesellschaft durchschlagen. Auch wenn sie sich hoffnungslos verlaufen.
CORNELIS HÄHNEL
■ „Tiergarten“, 8. bis 21. September täglich (außer am 15.) in der Brotfabrik
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