„Unerklärlich, wie ein solcher Ort in einem Erste-Welt-Land existieren konnte“

SLUM S’thembile Cele arbeitet als Journalistin in Kapstadt, Südafrika. Im vergangenen Juli war sie zu Besuch in der deutschen Hauptstadt und entdeckte dabei das Hüttendorf auf der Cuvrybrache. Irritiert und fasziniert hat sie die Diskussion um den „Berliner Slum“ verfolgt

■ 23, ist Zeitungs-und Radiojournalistin. Demnächst zieht sie von Kapstadt nach Johannesburg, um für die Tageszeitung City Press zu arbeiten.

PROTOKOLL NINA APIN

„Im Juli besuchte ich eine Konferenz in Deutschland. Ein paar Tage war ich in Bonn und anderthalb Wochen in Berlin. Ich war so beeindruckt von der Organisation, von der Wohlgeordnetheit in diesem Land: Die Infrastruktur, der Nahverkehr – sogar die Wohnverhältnisse der Ärmeren sind nach südafrikanischen Maßstäben luxuriös. Über eine Bekannte erfuhr ich von der Existenz eines Slums in Kreuzberg, über den es anscheinend viele Diskussionen gab.

Ich dachte: ‚Wie kann es in einem Erste-Welt-Land wie Deutschland einen Slum geben?‘ Ich fragte mich durch und fand schließlich dieses Hüttendorf am Fluss, das für mich einen vertrauten Anblick bot: Südafrika ist voll von solchen informellen Hüttensiedlungen ohne Wasser und Elektrizität. Die Bewohner reagierten zunächst feindselig auf mich und meine Begleiterin. Viele sprachen kein Deutsch, ein paar Kinder konnten ein wenig Englisch und übersetzten. Ich fand heraus, dass viele Bewohner Gipsy-Leute sind, die viel reisen und wenig Chancen auf Hilfe in Deutschland haben.

Offenbar lastet auf diesen Leuten, ich glaube, man nennt sie Roma, ein gesellschaftliches Stigma: Berliner, mit denen ich über die Cuvrybrache redete, waren auf sie nicht gut zu sprechen. Niemand fühlte sich offenbar für sie zuständig, sogar eine Frauenorganisation, mit der ich sprach, erklärte, es sei fast unmöglich, diesen Leuten zu helfen. Das fand ich komisch. In einem Land wie diesem!

Eine Art Protest

Nachdenklich machte mich ein Mann aus Mosambique, den ich auch auf der Cuvrybrache traf. Er zeigte mir seine selbst gebaute Hütte und erklärte mir, dass einige Bewohner freiwillig hier waren: junge Europäer, auch einige Deutsche, die diese Lebensweise als eine Art Protest gewählt hatten. In Südafrika käme kein Angehöriger der Mittelklasse auf die Idee, freiwillig im Slum zu leben. Noch nicht mal Künstler. Aber in unseren Townships ist es auch echt gefährlich für Leib und Leben. In Berlin ist das anders, ich kann mir vorstellen, dass man im Sommer gut am Fluss leben kann – wenn man die Möglichkeit hat, sich zu verpflegen, bei Freunden zu duschen, wenn man ein Auffangnetz hat. Bei den wirklich Armen ist das natürlich anders, für die ist es bitter.

Als Südafrikanerin sollte ich wahrscheinlich wütend sein auf diese weißen, deutschen Kids, die es für romantisch, subversiv und „arty“ halten, im Elend zu leben. Mit der Realität in südafrikanischen Townships hat das alles nichts zu tun: Die sind ein Erbe der Apartheid. Noch immer leben Schwarze zu einem großen Teil unter unwürdigen Umständen. Das ist ein politischer Skandal, gegen den 100 Leute in der deutschen Hauptstadt doch eher lächerlich sind.

Für die deutschen „Aussteiger“ habe ich aber ein gewisses Verständnis: Die deutsche Gesellschaft scheint mir so konservativ und so wohlorganisiert zu sein, dass diese radikale Verweigerung des Wohlstands vielleicht die einzige Chance für viele ist, auszubrechen. An der Uni habe ich immer wieder deutsche Austauschstudenten erlebt, die zunächst ganz schüchtern und gehemmt ankamen. Und am Ende waren sie bei jeder Party die wildesten. Vielleicht bietet eure Gesellschaft nicht genug Gelegenheiten, sich auszudrücken?

Ich habe gehört, dass es den Slum inzwischen nicht mehr gibt. Ich frage mich, was mit denen passiert ist, die nicht freiwillig dort lebten. Wohin sind sie gegangen? In Südafrika haben wir in den großen Städten das Problem, dass Arme leer stehende Immobilien besetzen, um dort ohne Miete, aber eben auch ohne Kanalisation, Wasser und Elektrizität zu leben. Ich denke, das ist in Berlin nicht möglich. Aber das Erlebnis auf der Cuvrybrache hat mir gezeigt, dass es auch in Deutschland echte Armut gibt. Und eine urbane Unterschicht, die durchaus mit der in Kapstadt oder Johannesburg zu vergleichen ist.