WER IM REICHSTEN DORF CHINAS LEBT, MUSS NICHT AUF REISEN GEHEN
: Der geborgte Kommunismus

FELIX LEE

Diesen Abstecher wollte ich mir nicht entgehen lassen. Bei der Autofahrt neulich von Schanghai in die rund 300 Kilometer westlich gelegene einstige chinesische Hauptstadt Nanjing kam ich an einem Schild vorbei mit der Aufschrift „Huaxi – der Himmel auf Erden“. Und darunter stand in großen roten Lettern: „Willkommen im reichsten Dorf der Volksrepublik“.

Ich hatte schon von Huaxi gehört. Jeder Chinese kennt dieses Dorf. Der Legende nach hat es seinen Wohlstand dem ehemaligen Parteisekretär und Dorfvorsteher Wu Renbao zu verdanken. Er hatte bereits ab Mitte der 1960er Jahre heimlich eine Metallwarenfabrik zu Profit gebracht. Während Mao zur „Großen proletarischen Kulturrevolution“ aufrief und Rote Garden im ganzen Land wüteten, hortete Genosse Wu bereits ein Vermögen. Als dann Anfang der 1980er Jahre in China die Marktwirtschaft Einzug hielt, hatte sich Huaxi bereits einen Vorsprung erarbeitet – den es bis heute halten kann. Nun ist das Dorf mit seinen rund 2.000 Einwohnern umringt von mehreren Dutzend Fabriken. Und deren Firmenchefs und Spitzenmanager wiederum leben mit ihren Familien in Huaxi.

Und der Abstecher in das Dorf lohnt sich. In der Mitte der Villensiedlung steht ein gigantisches Hochhaus mit einer großen silbern glitzernden Kugel, das umringt ist von acht ebenfalls funkelnden runden Wohntürmen mit chinesischem Welldach. Von diesen Türmen gehen sechs- bis achtspurige Straßen aus, die hauptsächlich Richtung Brachland führen. Hunderte Villen im barocken Stil säumen sie – die Villen sind pastellfarben gestrichen, tragen rote Spitzdächer und überall stehen marmorne Hermes- und Venus-Skulpturen.

Am Wohlstand der Dorfbewohner ist denn auch nicht zu zweifeln. Vor ihren Garagen stehen Cayennes, Audis und andere dicke Limousinen. Angeblich soll jeder Dorfbewohner über ein Vermögen von umgerechnet einer Million Euro verfügen. In diesem Moment verstehe ich, was es mit dem Kommunismus chinesischer Prägung in Reinform auf sich hat: Reichtum für alle. Huaxi ist denn auch stolzer Träger des Titels eines „chinesischen Musterdorfs“.

Doch wie es sich für den Kommunismus gehört – die Millionenvermögen haben die Bewohner von Huaxi nur geborgt. Eine Villenbewohnerin, die mir stolz ihr Anwesen zeigt, erklärt: Wer aus dem Dorf wegzieht, verliert alles. Nicht einmal die Flachbildfernseher dürfen mitgenommen werden. Sie gehören genauso zum Dorfinventar wie die Hollywoodschaukeln auf den Terrassen, die schweren Eichentische im Essbereich, die Kübelpalmen in den Wohnzimmern und die Venusfiguren.

Doch wer will schon weg aus Huaxi? Wer die große weite Welt sehen will, muss bloß von der Wohnzimmerfront aus nach draußen schauen. Auf einem Bergkamm haben die Konstrukteure von Huaxi die Große Mauer nachgebaut, den Pekinger Kaiserpalast, und etwas weiter auf den Hügeln stehen der Pariser Triumphbogen, das Capitol von Washington, der Eiffelturm und das Opernhaus von Sydney.

Wahrlich ein Himmel auf Erden – wer es nach Huaxi schafft, hat den Rest der Welt nicht mehr nötig.