DER SATZ „DAS IST EIN WEITES FELD, LUISE“ IST SEIT FONTANE EINE BELIEBTE REDEWENDUNG. AUF DEM TEMPELHOFER FELD WIRD SIE GELEBT
: Folge der Skaterin, nicht den Multitaskingopfern

VON JÖRG SUNDERMEIER

BERLIN AUF BLÄTTERN

Thilo Bock ist in Berlin bekannt wie ein bunter Hund. Er betreibt eine Lesebühne in Wittenau und dazu auch noch eine in Mitte, wo sonst, und auf Letzterer zeigt er sich als „Dichter als Goethe“. Er liest auch sonst hier und dort und überall, beinahe jede Woche hat man Gelegenheit, ihn irgendwo in Berlin lesen zu hören. Zudem hat er bislang zwei Berlin-Romane und zwei Bände mit Erzählungen vorgelegt, in denen es auch immer wieder mal um die Hauptstadt geht. Für den gebürtigen Westberliner ist das ein Muss.

Nun ist sein dritter Roman erschienen, er ist, laut Genre-Bezeichnung, ein „Freiluft-Roman“ und heißt „Tempelhofer Feld“. Erschienen ist er im neuen, recht aufregenden Berliner Verlag Fuchs & Fuchs. Der Romantitel trifft exakt das Thema, denn im Roman geht es um das Feld als solches und darum, was es mit seinen Besuchern macht.

Bocks Protagonist heißt Sven. Dieser ist ein unscheinbarer Bibliothekar, der die Abwicklung seiner Bibliothek fürchtet, und sich eher ziellos treiben lässt. So weht es ihn, den Weddinger, auch an seinem 40. Geburtstag durch die Stadt, es treibt ihn nach Neukölln und zwingt ihn, der das nie zuvor getan hatte, einer jungen Frau zu folgen, einer Skaterin, die seine Aufmerksamkeit auf sich zieht, weil die „jungenhafte Frau mit dunkelglänzendem Haar und schmalen Augen“ sich ihm „in den Blick“ setzt. Ihr folgt Sven aufs ehemalige Rollfeld und tatsächlich gelingt es ihm, ein Gespräch mit ihr zu beginnen, wenn auch ein völlig unverbindliches. Sie bietet ihm ihr Board an, er traut sich nicht. Dann ist sie wieder weg, aber nicht für Sven.

Er will sie wiedersehen, daher kommt er nun immer wieder auf das Feld, doch trifft er nicht unbedingt sie, sondern manchmal nur ihre Mitbewohner, trifft seinen Freund Markus, trifft die Hobbygärtnerin Antonia oder den Sohn von John F. Kennedy. Er teilt sich Mate mit diesem und Sekt mit dieser, und wird einen Sommer lang immer mehr hineingezogen in das Mysterium des Feldes.

Er träumt sich in den Fontane-Roman „Schach von Wuthenow“ hinein, er sieht die für eine Flugshow über den Atlantik gereisten Gebrüder Wright und Otto Lilienthal vor sich, vor seinem geistigen Auge erstehen das KZ Columbia-Haus und das nationalsozialistische Zwangsarbeiterlager wieder, er hört die mit Kohle und Bonbons beladenen Rosinenbomber der Amerikaner einfliegen und blickt auch in eine düstere Zukunft, auf ein bebautes Tempelhofer Feld nämlich. Und langsam wird aus seinem verwirrten Leben ein geordnetes, gerade dadurch, dass sich Sven der Freiheit, die auf dem Tempelhofer Feld herrscht, aussetzt.

Thilo Bock wählt für seinen Roman auf den ersten beiden Seiten eine recht avancierte Erzählweise: „Oder anders. Mehr Himmel als Feld. Himmel überm Feld. Der sich voller Wolken zog. Unser Gras-Asphalt-Platz gab ein phantastisches Panorama frei auf die aufziehende Katastrophe. Oder anders. Der Sohn von JFK ließ seinen Pfandflaschenwagen scheppern, gefolgt von Onassis IV., schwanzwedelnd. Oder anders. Sie stand weit vorn auf ihrem Board und umkurvte in gemächlichem Slalom die Schlendernden.“

Das „Oder anders“ wird taktendes Element bleiben. Bock aber drosselt nicht nur bald und völlig zu Recht dieses atemberaubende Tempo, manchmal wird er einfach langatmig, manchmal ist sein Wissen über das Feld und seine Geschichte zu deutlich ausgestellt und steht dann in scharfem Kontrast zur Leichtigkeit der Geschichte.

Schade, denn Bock ist ein toller Autor und seine Dialoge sind wundersam wirklichkeitsnah. Mehr Kürze hätte dem Buch also gut getan. Doch auch in seiner jetzigen Länge ist es noch immer ein Genuss, und das nicht nur für die, wie Bock sie nennt, „gegenwartsgeschädigten Multitaskingopfer“, die das Feld Sommer für Sommer bevölkern.

■ Thilo Bock: „Tempelhofer Feld. Ein Freiluft-Roman“. Fuchs & Fuchs, Berlin 2014, 208 Seiten, 17 Euro

■ Jörg Sundermeier ist Verleger des Verbrecher-Verlags