DAS ENTSCHEIDENDE DETAIL
: In der Wald-Kathedrale

RIESE Der Mammutbaum gilt mit über 100 Metern als höchste Baumart. Doch ein Rieseneukalyptus könnte ihn einholen – in ein paar hundert Jahren

Wir werden es nicht mehr erfahren – der Rieseneukalyptus wird rund 500 Jahre alt

Er mag Raumsonden auf Kometen schicken oder Katzenbilder um den ganzen Globus, aber dem archaischen Eindruck von GRÖSSE kann sich der Mensch trotzdem nicht entziehen. Jedes Jahr schreiten Hunderttausende Besucher ehrfurchtsvoll durch die kalifornischen Wald-Kathedralen, um sich zwischen mächtigen, uralten Mammutbäumen wie herumwuselnde Kerfe zu fühlen und eine Ahnung der eigenen Bedeutungslosigkeit zu erhaschen. Da die kindliche Freude an Rekorden auch dem adulten Menschen nicht abhandenkommt, bereitet es ihm wohlige Schauer zu wissen, dass er unter den höchsten Bäumen des Planeten lustwandelt.

Da allerdings könnte er falsch liegen. Sequoia sempervirens, der Küstenmammutbaum oder Redwood aus dem Küstengebirge Nordkaliforniens, gilt zwar als Rekordhalter in Sachen Höhenwachstum, das größte bekannte Exemplar misst 115,55 Meter. Womöglich hat er den Rekord aber nur mit unerlaubter Hilfe errungen. Denn auf der anderen Seite der Welt, in Südostaustralien und Tasmanien, hat sich unter ähnlichen Umweltbedingungen ein aus einer anderen Baumfamilie ebenfalls nach ganz oben aufgeschwungen: der Rieseneukalyptus, Eucalyptus regnans. Dessen höchstes bekanntes Exemplar misst ziemlich genau 100 Meter. Aber historische Daten zeigen, dass die tasmanischen Riesen einst deutlich höher waren: 115 Meter gelten als gesichert, manche Quellen sprechen von über 130 Metern. Allerdings sind diese Titanen schon im 19. Jahrhundert Holzfällern zum Opfer gefallen. Ein Schicksal, das sie mit den Redwoods teilen. Auch deren Bestände sind ausgebeutet worden, bis nur klägliche Reste blieben.

Wem also tatsächlich der Rekordtitel gebührt, muss vorerst ungeklärt bleiben. Wir heute Lebenden werden es nicht mehr erfahren – der als für Baumriesen geradezu hektische Rieseneukalyptus wird immerhin rund 500 Jahre alt, die deutlich entspannteren Küstenmammutbäume können ein Alter zwischen 2.000 und 3.000 Jahren erreichen. Hoffen wir mal, dass es in ein paar hundert Jahren alle noch geben wird, um die Rekordfrage abschließend zu beantworten: die Bäume – und die Menschen. HEIKO WERNING