Die Nähe der Exilanten

Nach den Anschlägen gegen jesidische Dörfer im Nordirak haben in Göttingen Jesiden gegen den Terror protestiert. Ein Besuch vor Ort

Nach Schätzungen bekennen sich weltweit rund 800.000 Menschen zum jesidischen Glauben. Zwischen 200.000 und 500.000 Jesiden leben im nördlichen Irak, die übrigen in Syrien, der Türkei, im Iran sowie in Armenien und Georgien.In vielen ihrer Herkunftsländer werden die Jesiden verfolgt und diskriminiert, sei es aus ethnischen Gründen, weil sie Kurden sind oder weil sie in den Augen von Muslimen „Ungläubige“ sind. Zehntausende Jesiden flüchteten in den vergangenen Jahren nach Nordamerika und Deutschland. In Deutschland leben etwa 45.000 Jesiden, vor allem in Niedersachsen und Nordrhein-Westfalen. In Niedersachsen wohnen die meisten Jesiden in der Gegend rund um Celle und Hannover. RP

AUS GÖTTTINGEN REIMAR PAUL

Als der Fotograf kommt, wird es eng. Auf dem Sofa im Wohnzimmer drängen sich die beiden jesidischen Familien dicht aneinander. Was für das Bild arrangiert ist, hat Symbolkraft: Nach den verheerenden Terror-Anschlägen vom 14. August, bei denen in jesidischen Dörfern im Nordirak mehr als 400 Menschen ums Leben kamen, sind die Jesiden im Exil noch näher zusammengerückt.

„Wir tauschen Nachrichten aus und treffen uns sehr oft. Privat, bei Festen und bei Veranstaltungen“, sagt Ilyas Isa. Der 28-Jährige studiert in Göttingen Iranistik und Arabistik. Rund 35 jesidische Familien, die meisten von ihnen sehr groß, wohnen in der Universitätsstadt oder der näheren Umgebung.

„Alle Jesiden sind Kurden, sie sprechen die kurdische Sprache, aber nicht alle Kurden sind Jesiden“, versucht Khalil Jindy Rashow, der 1992 als politischer Flüchtling aus dem Irak nach Deutschland kam, eine Einordnung. Das Jesidentum sei eine der ältesten Religion im Nahen Osten. Seine Wurzeln lägen 4000 Jahre zurück.

In der jesidischen Religion steht Gott im Zentrum, aber auch die Natur, Sonne und Mond werden als Gottes Symbole verehrt. Den von Fundamentalisten aller Couleur erhobenen Vorwurf, die Jesiden seien Teufelsanbeter, weist Rashow scharf zurück. In ihrer Lehre gebe es das Böse gar nicht, sagt er. Gott wäre schwach, wenn er eine zweite Kraft neben sich existieren ließe.

Als wichtigsten Unterschied zu Christentum und Islam nennt Rashow, „dass wir keinen Vermittler zwischen Gott und den Menschen haben“. Dafür aber sieben Engel. Den wichtigsten von ihnen, Taus-i Melek, erschuf Gott in der Gestalt eines Pfaus. Rashow zeigt auf den Messingpfau auf dem Wohnzimmertisch, in einer Ecke steht eine große Vase mit Pfauenfedern.

Ein der Bibel oder dem Koran vergleichbares Heiliges Buch haben die Jesiden nicht. Die meisten Regeln wurden über die Jahrhunderte mündlich überliefert, sagt Rashow, der selbst mehrere Bücher über die Geschichte und Religion von Kurden und Jesiden geschrieben hat. Uralt sind auch die jesidischen Bräuche und Feste. Wie „Bisbirin“, eine Art Taufe, bei der Jungen zum ersten Mal das Haar geschnitten wird. Die Zeremonie erfolgt meistens im fünften oder siebten Lebensmonat des Kindes im Beisein von Nachbarn, Verwandten sowie des Sheikhs, eines religiösen Anführers.

Die Haare der jesidischen Mädchen sollten ursprünglich bis zu ihrem Tod nicht von scharfen Klingen oder Scheren geschnitten werden. Beim Kämmen ausgefallene Haare wurden gesammelt und in der Erde vergraben. An dieser Tradition hielten die Jesiden heute aber kaum noch fest, erzählt Rashow und lacht: Seine Schwiegertochter betreibt in Göttingen einen Friseursalon.

Jesiden glauben an die Reinkarnation: Die Seele eines Verstorbenen lebt in einem anderen Geschöpf weiter. Das kann ein Tier sein oder ein Mensch, ein Jeside oder Angehöriger einer anderen Glaubensgemeinschaft. Im Diesseits sind die Regeln schärfer. „Zum Jesidentum gehört man durch die Geburt“, sagt Rashow. „Man kann nicht ein- oder übertreten.“ Missionierung gibt es bei den Jesiden deshalb nicht.

Im Grundsatz werden andere Religionen als gleichwertig akzeptiert. In einem jesidischen Gebet heißt es: „Lieber Gott, schütze erst die 72 Völker und dann uns.“ Trotzdem dürfen Jesiden nur untereinander heiraten – bislang jedenfalls. „Da ist einiges in Bewegung gekommen“, unterbricht Isa. Gerade im Exil stellten viele junge Leute die alten Traditionen in Frage.

Dass einige Jesiden bis heute Ehrenmorde und Blutrache praktizieren, wissen Rashow und Isa. Dies sei aber ein Problem der Herkunftsregion und keine Folge der jesidischen Lehre, in der weder die Blutrache noch das alttestamentarische Prinzip „Auge um Auge, Zahn um Zahn“ verankert seien. „Die überwältigende Mehrheit der Jesiden verurteilt solche Taten“, versichert Rashow.

In der politischen Zielsetzung gibt es für jesidische und muslimische Kurden keine Unterschiede. „Wir treten für einen eigenen Kurden-Staat ein“, erklärt Nachbar Diyar Al-Kaidy, der inzwischen zu der Runde gestoßen ist. „Aber nicht für einen islamischen Kurdenstaat.“

Lange Zeit galt dieses irakische Bundesland als weitgehend befriedet, doch seit einigen Wochen ist es mit der relativen Ruhe in Kurdistan vorbei. „Islamisten verfolgen die Jesiden als Ungläubige“, erzählt Kemal Sido, Nahost-Experte bei der Gesellschaft für bedrohte Völker und selbst Jeside. Die Extremisten versuchten, einen Keil zwischen muslimische und jesidische Kurden zu treiben.

Gemeinsam mit den anderen Kurden aus der Universitätsstadt haben die Göttinger Jesiden vergangene Woche gegen den Terror im Nordirak demonstriert. Die Kundgebung fand am Mittwoch statt, dem heiligen Tag der Jesiden. An diesem Tag schickt Gott einen der sieben Engel zur Erde.