berliner szenen Das Kopftuch

Wege in die Zukunft

Es war wirklich eine außerordentlich schicke, fast elegante Kombination, die die Frau trug. Sie stieg vor mir am Kulturforum aus dem Bus: eine schwarze Seidenjacke, ein eng anliegender, langer dunkler Rock und dazu die rostbraunen, schulterlangen Haare. Einige Stunden später sah ich sie wieder. In den Weiten des Lesesaals der Bibliothek saß sie mit sorgfältig befestigtem Kopftuch über ein Anatomielehrbuch gebeugt. Das erinnerte mich an Heide.

Es muss in der 12. Klasse gewesen sein, unsere Schule hatte nicht nur eine Kantine, sondern auch für jeden Schüler ein Schließfach. Dort verwahrte Heide ihren schwarzen Mantel und die anderen Utensilien ihrer Gruftkluft. Zu Hause ging das überhaupt nicht, denn Heides Vater war äußerst streng: Inhaber eines Installationsgeschäftes, Schützenbruder und zweiter Vorsitzender des Kreisverbandes der CDU – er duldete bei seinen Kindern weder Firlefanz noch Extravaganz.

Und was war es bei dieser Medizinstudentin? Vielleicht ein Patriarch mit einem unglaublich buschigen Schnauzbart, der sich aus der Türkei ein Atatürk-Wandbild und einen unumstößlichen Laizismus mit in seine neue Heimat hinübergerettet hat und seiner Tochter unter Androhung schwerer Konsequenzen das Kopftuch verbietet und sie erst zum Abitur und dann zum Studium zwingt? Welcher Weg bleibt da schon in eine selbstbestimmte Zukunft?

Heide, so erfuhr ich beim letzten Klassentreffen, ist mittlerweile ins Management der örtlichen Volks- und Raiffeisenbank aufgestiegen, trägt vorzugsweise dezent Schwarz und setzt sich als Vorsitzende des Bezirkselternbeirats vehement für die Einführung von Schuluniformen ein.CARSTEN WÜRMANN