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Das Leben an sich

„Es ist die fixe Idee eines Menschen aus dem ehemaligen Ostblock. Dass er höchstpersönlich das Leben kennt. Und mehr noch, dass er es denen zeigen wird, die keine Ahnung haben.“ Begegnung mit den eigenen Vorurteilen in transsilvanischen und bayerischen Wäldern

ATTILA BARTIS, geb. 1968 in Marosvásárhely im rumänischen Siebenbürgen, lebt seit 1984 in Budapest. Für sein Romandebüt 1995 „A séta“ (dt. Der Spaziergang) erhielt er das Zsigmond-Móricz-Stipendium; 1997 den Tibor-Déry-Preis, 2002 den Sándor-Márai-Preis. Auf Deutsch liegt vor „Der Spaziergang“, das von der Kritik hoch gelobte Buch „Die Ruhe“ (2005) sowie „Die Apokryphen des Lazarus“ (2007). FOTO: JULIA BAIER

VON ATTILA BARTIS

Ich stand auf der Terrasse eines Gasthauses, es dämmerte. Ein Mann sagte, dort drüben, das sei der Montblanc, und zeigte ins Nichts. Ich trank den Wein, das Glas hatte er mir in die Hand gedrückt, sehr schön, sagte ich, dann tat ich schnell, als wolle ich noch Wein holen gehen. Gern hätte ich einer Frau den Hof gemacht. Nicht mehr, als der gute Geschmack es erlaubt, aber eben den Hof gemacht. Wie mein Vater den beiden Krankenschwestern den Hof machte, die ihm am Schluss noch Löffel für Löffel den Krankenhauseintopf in den Mund schoben. Konnte er, genau eine halbe Stunde vor dem unmenschlichsten Todeskampf, an Schläuchen hängend, die Haare ausgefallen, konnte er diesen Schwestern, die drei Tote täglich gewohnt waren, so den Hof machen, dass sie sich in der Mittagspause aus dem Krankenhaus schlichen und ihm Blumen auf die Bahre legten, dann werde auch ich das schaffen.

Du siehst schlecht aus. Ist etwas passiert?, fragte die einzige Frau, die auf diesem Schweizer Berggipfel ungarisch sprach und der ich hätte den Hof machen können, und im selben Augenblick war klar, dass daraus nichts werden würde. Ja, es ist etwas passiert, etwas Endgültiges, Unabänderliches, und allein dafür war ich schon dankbar, dass sie mir kein Beileid wünschte. Sie holte Wein, wir schauten auf die Berge, dann fing sie an, von einem großen deutsch-ungarischen Projekt zu reden, in dem auch ich … Was soll ich tun, fragte ich. Dich erinnern, sagte sie.

Kaum einen Monat später saß ich auch schon mit einer wildfremden Fotografin in einem Berliner Café, um in einer für uns beide fremden Sprache die Einzelheiten des gemeinsamen Erinnerns zu besprechen. Julia Baier ist auf den ersten Blick genau wie die Schwimmweltmeisterin Krisztina Egerszegi; damals, als ich schwimmen lernte, brachte mein Vater mich an das Ufer der Maros, ich zog mich aus, er holte die Wäscheleine aus seiner Aktentasche, band sie mir nicht zu eng, aber doch sicher um Brust und Schultern, dann setzte er sich in den Schatten einer Pappel, hielt das Seil mit beiden Händen fest und ließ mich langsam, vorsichtig in den Fluss, der im Jahr zuvor zwei Rekruten und ein Liebespaar mitgerissen hatte, noch ein Jahr davor Zigeuner, die Mais gestohlen hatten, es nützte nichts, dass sie sich an den Säcken festklammerten, denn bei der Strömung am Kraftwerk hilft einem nicht einmal der geklaute Mais. Ich kann nämlich nicht schwimmen, sagte mein Vater, früher konnte ich es, aber seit sie mir im Gefängnis das Ohr zerschlagen haben, Trommelfell, Amboss, Hammer, seitdem kann ich nicht, ich bitte dich sehr, nimm dieses Seil nicht von dir ab, mein Sohn.

Julia Baier ist auf den ersten Blick Westdeutsche, was im Ungarischen ein Synonym ist für frei. Die wichtigste Eigenschaft eines freien Menschen ist das Fragen. Schonungslos fragen, was man nicht versteht. Diese Frau wird neben mir stehen, vor einem Tor, wird sich anhören, was ich halb englisch, halb gestikulierend über dieses Tor erzähle, wird es fotografieren, dann wird sie fragen, warum wir eigentlich zwischen den Brettern hindurchspähen, wenn ich hier geboren bin, warum wir nicht hineingehen – und ich werde keine akzeptable Antwort haben.

Natürlich wusste ich auf den ersten Blick, dass Julia Baier nicht Krisztina Egerszegi ist. Selbst wenn sie an den Ufern von gleich drei Flüssen aufgewachsen ist und sich in Gewässern schwimmen traut, in denen ich das nie würde. Und ich wusste auch, es hilft nicht, dass sie Westdeutsche ist, denn dadurch, dass jemand frei wählen, schreiben, lesen, reden kann, ist noch nie jemand frei geworden. Sie ist zwar Fotografin, doch beschützt kein Schild sie. Schließlich ist es mein Beruf: auf den ersten Blick das Vorurteil in mir zu erkennen. Es erkennen und erbarmungslos sein. Und unbeirrt an all jenen zu zweifeln, die mit wahnwitziger Besessenheit verkünden, sie seien von Vorurteilen frei.

Der Herr vergibt fast allen, außer den chauvinistischen Ungarn

Ich wusste also auf den ersten Blick, so eine organisierte Gesellschaftsreise ist die beste Gelegenheit dafür, dass die billigsten Stereotypien aus ihrem Schlummer erwachen. Dennoch, ein halbes Jahr lang, bis ich endlich von Budapest nach Passau fuhr, hegte ich den Plan, dieser Frau werde ich zeigen, wie das Leben ist. Das ist die fixe Idee eines Menschen aus dem ehemaligen Ostblock. Dass er höchstpersönlich das Leben kennt. Und mehr noch, dass er es denen zeigen wird, die keine Ahnung haben. Gut, Passau haken wir dann in drei Tagen friedlich ab, gehen spazieren, schauen uns an, wie Ilz, Inn und Donau sich vereinigen, oder betrachten die berühmte Messlatte an der Wand des Rathauses, an der man sieht, wie hoch das Wasser in welchem Jahr war, und womöglich fahren wir ein bisschen Schiff. Und am Freitag steigen wir in den Zug, später ins Flugzeug, um endlich hübsch zum Leben vorzudringen. Ich werde sie die wildesten Pfade entlangschleifen. Sie wird Holz hacken und Zwiebeln mit Speck essen. Von weitem zeige ich ihr die Spitzel, ich stelle ihr die Bespitzelten vor. Und wir werden vier Stunden lang vor einem Geschäft herumstehen, als wäre gerade die monatliche Ration Zucker und Mehl angekommen, die einem auf die Lebensmittelmarken zusteht.

Zugegeben, das ist längst kein Lebensmittelladen mehr, sondern ein Geschäft für Wohnaccessoires, aber sie wird mit mir diese verdammte Schlange durchstehen, und auf dem Weg nach Hause werden wir uns den Zucker von den Fingern schlecken, bis von dem einen Kilo monatlich nur ein halbes übrig bleibt. Das war bis Wien. Spitzel und Zucker. Aber wenn es um das Leben geht, ist man schonungsloser. Als mein Zug in Linz war, packte ich bereits die Hausdurchsuchung und das Securitate-Verhör dazu, die eingestampften Bücher und den Stromausfall, und das im schalldichten Keller gemästete Schwein, von dem vor Weihnachten nicht einmal die Verwandtschaft wissen durfte, denn der Ehemann der Tante ist Halbrumäne und er ist zwar in Ordnung, aber sicher ist sicher. Ich suchte auch sämtliche beschlagnahmten Notizhefte zusammen, und die verpflichtenden Heimatschutzübungen, und dass du, wenn du die falsche Muttersprache hattest, deine wahre Heimat nur mit leeren Hülsen hättest verteidigen können. Oder die mit politisch unzuverlässigen Elementen vollgepferchte Mine, die an einem Sonntagvormittag zufällig einstürzte, und die aus Parteigeldern dekorierte orthodoxe Kirche, an deren Wänden ungarische Adelige in Husarenuniform einen Christus geißeln, der wie ein rumänischer Leibeigener gekleidet ist, aber auf der letzten Ikone steigt der Sohn Gottes in den Himmel auf, und der Herr vergibt fast allen, außer den chauvinistischen, revisionistischen Ungarn.

Bis der ICE in Passau ankam, war mein Gepäck bereits bleischwer, alles war darin, wovon ein Mensch aus dem Ostblock glaubt, dass es das Leben an sich ist. Merkwürdig ist nur, dass er immer vergisst, das Eine in den Koffer zu packen, dessentwegen er das Ganze um nichts in der Welt hergeben würde. Am Bahnhof interessierte sich Julia Baier nicht besonders dafür, was ich alles im Gepäck hatte, sie riss es mir aus der Hand, als sei es federleicht, und schon legte sie es in den Wagen. Bis wir im Haus am Ufer der Ilz ankamen, war ich mir überhaupt nicht mehr sicher, dass ausschließlich Verhöre, Schlange stehen und im Keller gemästete Schweine das Leben bedeuten. Ja, es könnte leicht sein, dass auch dies das Leben an sich ist: eine Gartenliege, Klappstühle, ein Fluss. Am Abend sind zwei Drittel der Familie beisammen. Nicht etwa Barockidylle, nur schlichter Alltag. Alle haben ihre Arbeit getan, haben die tägliche Routine, die Freude, den Frust hinter sich, sind nicht zum Umfallen ausgelaugt, nur ein bisschen müde. Wir sitzen einfach am Feuer, unterhalten uns, und bis das letzte Scheit abgebrannt ist, vergesse ich sogar, dass ich eigentlich kein Englisch kann. Ich frage noch, ob man die Tür über Nacht wirklich nicht abschließen muss, aber ich glaube bereits ohne Vorbehalt, dass nicht.

Der Sturm hatte den Bayerischen Wald dezimiert, genau wie vorletztes Jahr den in Szárhegy. Der Unterschied ist nur, dass die umgestürzten Bäume hier nicht gestohlen wurden, aber das macht es nicht unbedingt leichter, die Steigung zu den Felsen zu erklimmen. Ich hechle hinter Julia her, ungefähr so, wie ich mir ausgemalt hatte, dass sie hinter mir herhecheln würde, wenn wir zum Krater des Sankt-Anna-Sees hinaufklettern, und die Wolken schwimmen über uns, fast genau wie eine Woche später auf dem Pongrác-Gipfel. Irgendwo am deutsch-tschechisch-österreichischen Dreiländereck weiß sie nicht, wo der richtige Weg ist, genau wie auch ich nie weiß, welcher Pfad von der Békás-Klamm hinüber zu den Überresten der kaiserlich-königlichen Grenzwächterhäuschen führt. Ein bis auf die Haut durchnässter Mann kommt uns entgegen, wir fragen ihn. Abrupt bleibt er stehen, breitet beide Arme aus, er hat nichts gesehen, nichts gehört, kann nichts dafür, er ist nur ein Tschechoslowake. Ganz als würde ich mich selbst sehen, an einer anderen Grenze, doch jetzt, da ich nicht mich selbst sehe, fällt es mir etwas leichter zu lachen. Ich kann rechnen, wie ich will, meine Haare werden wohl grau, bis ich glauben kann, dass wir hier herumrennen dürfen, wir Tschechoslowaken, Ungarn und Ostdeutsche. Die ausgebreiteten Arme, dieses Tumirnichts, das ist unsere große gemeinsame Muttersprache. Bereits Pawlowsche Reflexe genügen, dass wir einander verstehen, dabei haben sich schon seit Jahren Marder in die netten kleinen Maschinengewehrnester eingenistet.

JULIA BAIER, geb. 1971, studierte Psychologie und Fotografie in Bremen. Seit 1998 ist sie als freischaffende Fotografin für verschiedene Zeitungen und Magazine tätig. Ihre Arbeiten wurden mehrfach ausgezeichnet, so erhielt sie 2003 den BFF-Förderpreis für ihre Serie „Die öffentliche Badeanstalt“. Die Serie „Sento – das japanische Badehaus“ (2005) erscheint demnächst als Buch. Julia Baier lebt in Berlin. FOTO: STEFAN DEMMING

Bald wird klar, ein richtiges Dorf können wir lange suchen. Dabei rufen wir sogar zu Hause an, wann und wo Julias Vater das letzte richtige bayerische Dorf gesehen hat. Er hat eine Idee, allerdings ist es schon Jahre her, dass er dort gewesen ist, es kann sein, dass die Straße inzwischen betoniert und jede Holzbank unter den Apfelbäumen gegen Kunststoffstühle ausgetauscht ist, jedes Pferdefuhrwerk gegen einen modernen Traktor. Das beruhigt den Menschen aus dem Ostblock in mir, denn es stimmt zwar, dass von den Hausdurchsuchungen und dem Lebensmittelmarkenmehl auch bei mir nur noch der Pawlowsche Reflex übrig geblieben ist, aber echte Dörfer, Plumpsklos hinten im Garten, matschige Feldwege und von Pferden gezogene Pflüge werde ich wenigstens zeigen können, natürlich nicht mehr viele.

Der Dom ist gerade sechshundert Jahre alt, gerade spielen drei Leute gleichzeitig auf der größten Kirchenorgel der Welt. Ein mächtiges Instrument, es lässt kaum jemanden schlafen, nur die zweite alte Frau links von mir schnarcht, den Kopf auf die Schulter gekippt, genau wie Gräfin Mikó in Vásárhely, sie schnarcht immer die gesamte Musiksaison von Bach bis Bartók durch. Von der Stille zwischen zwei Sätzen wacht sie auf, klatscht. Der stumme Dom hallt von ihrem Applaus. Sie entschuldigt sich bei der anderen alten Frau links von mir, dann, sobald die Pfeifen erdröhnen, schläft sie wieder ein. Ihr Gesicht sehe ich nicht, aber es müsste mit dem Teufel zugehen, wenn das nicht Gräfin Mikó ist. Ich weiß, dass sie es ist, schließlich hat sie mir das Klavierspielen beigebracht.

Lieber Attila, jeder Kavalier kann wenigstens die Nationalhymne und einen Walzer spielen, da werden auch Sie keine Ausnahme machen. Also werden Sie so freundlich sein und jeden Nachmittag eine Stunde lang diese zwei Äpfel locker in der Hand halten. Denn darauf kommt es an. Auf die Haltung der Finger. Das ist es, worauf die Anschlagtechnik aufbaut, dozierte sie an einem verstimmten Thék & Co. in der winzigen, aus einem Stall umfunktionierten Behelfswohnung, die nach der Verstaatlichung aus dem gräflichen Besitz übrig geblieben war. Sie siezte mich dabei. Außer der Anschlagtechnik unterrichtete sie auch Deutsch, Französisch, Altgriechisch und Latein, war in der Literatur-, Musik- und Kunstgeschichte ebenso bewandert wie in Geometrie, die nicht-euklidische Geometrie inbegriffen, und sie kannte das Geheimnis, wie man Pfannkuchen ohne Milch und Fleischsuppe ohne Fleisch zubereitet.

Ein Mensch aus dem Ostblock isst abends keinen Spargel, lieber bestellt er ein verboten schweres Fleischgericht, denn der Tag war lang. Julias Großmutter blickt leicht tadelnd, aber ich weiß genau, wenn ich nur ihre Ringe oder den Halsschmuck lobe, wird sie mir sogar doppelt so viel Rinderbraten verzeihen. Sie ist die vielleicht schönste achtzigjährige Frau, die ich je gesehen habe, und mit Sicherheit die eitelste. Jede zwangsumgesiedelte Gräfin könnte ihre Zofe sein; durch eine einzige flüchtige Handbewegung stellt sich dann aber heraus, dass sie die gesamte sudetendeutsche Zwangsumsiedelung im kleinen Finger hat. Ihr Gatte würde nach gut sechzig Jahren Schweigens aus unerfindlichem Grund ausgerechnet jetzt, beim Abendessen, zu erzählen beginnen. Mit einer kleinen Geste wird er ermahnt – du hast auf deine alten Tage den Verstand verloren, mein Herz, der Herr ist übrigens ein ungarischer Schriftsteller, erzähl lieber, wie oft du in Karlsbad im Kaffeehaus Ferenc Molnár gesehen hast. Irgendwie sind Frauen in solchen Dingen immer besser als Männer. Zwischen Spargel und Dessert erzählt man nicht von Gefangenschaft, Front oder Zwangsumsiedelung. Dann gehen sie Arm und Arm nach Hause, obwohl im Auto eigentlich Platz wäre, nach Konzert und Abendessen bestehen die beiden Alten auf ihrem Spaziergang.

REISEN IN DIE ERINNERUNG

Je zwei Leute, ein Fotograf und ein Schriftsteller, einer aus Ungarn und einer aus Deutschland, begeben sich gemeinsam an ihre jeweiligen Erinnerungsorte. Die Ergebnisse der Reisen werden in Wort und Bild festgehalten. Im Idealfall beschreibt der Autor die Erinnerung des Fotografen und der Fotograf porträtiert die Erinnerung des Autors. Aber auch andere Konstellationen sind möglich, je nach Psychologie der Beteiligten. In der heutigen und letzten Ausgabe: die deutsche Fotografin Julia Baier und der ungarische Schriftsteller Attila Bartis unterwegs im tiefsten Bayerischen Wald und im rumänischen Siebenbürgen. Die Serie „Revisiting Memory“ geht dem Phänomen Erinnerung auf den Grund mit einem bewusst gebrochenen Blick – zwischen Selbst- und Fremdwahrnehmung. Bereits erschienen: André Lützen und Krisztián Grecsó in einemVorort von Hamburg und in der ungarischen Tiefebene; Christiane Neudecker und Gabriella Csoszó im deutsch-ungarischen Nirwana; Arno Geiger und Lilla Khoór in Wolfurt bei Bregenz, einem Dorf, das keines mehr ist. Texte und Bilder sind Ergebnisse des Projekts „Revisiting Memory“, das im Rahmen von „Bipolar deutsch-ungarische Kulturprojekte“ stattfindet. Bipolar ist ein Initiativprojekt der Kulturstiftung des Bundes. Die bei „Revisiting Memory“ entstandenen Fotografien sind vom 4.–16. September im Rahmen des 7. internationalen Literaturfestivals Berlin im Haus der Berliner Festspiele, Schaperstraße 24, zu sehen. Am 14. und 15. September finden Lesungen mit den beteiligten Autoren und Fotografen statt, jeweils 18 Uhr. www.literaturfestival.com

Am nächsten Tag fahren wir noch rasch mit dem Fahrrad zum Markt, damit wir Proviant für den Weg haben, dann setzen wir uns in den Zug, genau wie man sich gern mit jemandem in den Zug setzt, mit dem einen mittlerweile mehr verbindet als nur ein deutsch-ungarisches Projekt. Meinem Gepäck fehlt nichts. Mir fehlt es kein bisschen, dass die fixe Idee eines Menschen aus dem ehemaligen Ostblock in einem Garten am Ufer der Ilz geblieben ist. Bestimmt wird sie nach Hause kommen und mich wiederfinden, sie ist wie ein Hund, aber jetzt zuckelt der Zug aus Passau hinaus, ohne sie.

Genau, und dann werden wir uns den vom anderen Sturm gerüttelten Wald ansehen, den anderen Felsen, statt der asphaltierten Straße den Feldweg, die andere Gartenliege, den anderen Garten, den Keller, in dem Herr Csipkés das Schwein gemästet hat, und den vom Pferd gezogenen Pflug, der auf einen Traktor wartet, den Freizeitpark in der Tiefe der Salzmine, den ungarischen Freiheitskämpfer von 1956, der in Szováta ein Moorbad nimmt, und den anderen Fluss, an dessen Ufer mir mein taub geprügelter Vater fürsorglich die Wäscheleine umband, wie gesagt, genau wie am Ufer der Ilz schauen wir uns dann das andere wirkliche Leben an.

Aus dem Ungarischen von Agnes Relle in Zusammenarbeit mit Werner D. Stichnoth

Gekürzte Fassung. Der vollständige Text findet sich in: Wilhelm Droste, Martin Hager, Aimée Torre Brons (Hg.): „Revisiting Memory – Gedächtnisspuren“. Matthes & Seitz Berlin/Drei Raben. Erscheint im September 2007

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