Zeitweise obdachlos

HAUSBESUCH Als er seine Wohnung im Kölner Agnesviertel räumen soll, protestieren Hunderte. Und er wird das bekannteste Opfer der Gentrifizierung in Deutschland. Jetzt ist er wieder da. Bei Kalle in Köln

VON ANJA KRÜGER (TEXT)
UND JÖRN NEUMANN (FOTOS)

Im angesagten Kölner Agnesviertel, zwischen der namensgebenden Kirche und dem Eisstadion. Zu Besuch bei Karl-Heinz „Kalle“ Gerigk (55) in der Fontanestraße, in die er nach seiner Zwangsräumung im April gerade zurückgekehrt ist.

Draußen: Eine schmale Straße mit Mehrfamilienhäusern in Gelb- und Rottönen. Einige Dachgeschosse haben edle graue Verkleidungen, sie sind luxussaniert. Früher wohnten hier vor allem Leute mit wenig Geld, sagt Kalle. Jetzt ziehen immer mehr Reiche her. Er wohnt seit mehr als 30 Jahren im Viertel – mit einer Zwangsunterbrechung in den vergangenen Monaten.

Drin: Zwei Zimmer, Küche, Bad, vorne ein kleiner, hinten ein großer Balkon. Alles frisch renoviert. Überall stehen Kisten. Kalle ist gerade eingezogen. Er wohnt jetzt ein Haus weiter als früher. Sein neuer Vermieter kennt ihn – und hat keine Angst vor einem potenziell renitenten Mieter. In der Küche hängt ein riesiges Banner: „Unser Nachbar Kalle bleibt.“ Das haben Nachbarn vor der Zwangsräumung aufgehängt. Den großen Küchentisch hatte er in den vergangenen Monaten bei Nachbarn untergestellt. Seit der Räumung hat er mal bei Freunden, mal in einer Dachkammer ohne Dusche gewohnt. Im neuen Wohnzimmer stehen mehr als ein Dutzend Kisten mit Schallplatten. Früher war Kalle DJ, unter anderem in der legendären linken Kneipe Souterrain am Hansaring.

Was macht er? Kalle arbeitet als Bezirksleiter beim Kölner Wohnungsamt. Er ist für die Einrichtungen der Stadt Köln für Flüchtlinge und Obdachlose zuständig. Er vermittelt zwischen den Betreuern und Hausmeistern und der Verwaltung, zum Beispiel muss er kontrollieren, ob Handwerker korrekt gearbeitet haben. Bundesweit bekannt geworden ist er durch den Kampf gegen seine Zwangsräumung in der Fontanestraße 5. Sein Vermieter hatte ihm wegen Eigenbedarf gekündigt, die Wohnung im Internet aber zum Kauf angeboten. Luxussaniert. Kalle verlor alle Prozesse, aber er wollte nicht aufgeben. Im Februar 2014 drohte erstmalig die Zwangsräumung. Hunderte von Unterstützern blockierten am Donnerstag, dem 20. Februar, den Zugang zu seiner Wohnung, die Räumung musste abgeblasen werden. Am Freitag danach bekam er einen Anruf vom Personalbüro der Stadt Köln, dass er den Vertrag für seinen neuen Job beim Wohnungsamt unterschreiben könne. „Ich habe in diesen Wochen immer gedacht: Du kriegst den Job beim Wohnungsamt nicht.“ Am Montag darauf trat er die Stelle an („Das war genau der richtige Job für mich zum richtigen Zeitpunkt“). Im April folgte unter großer öffentlicher Anteilnahme der zweite Versuch der Zwangsräumung, diesmal erfolgreich.

Was denkt er? Leben und leben lassen ist seine Lebensphilosophie. Es gibt nur eine Ausnahme: Nazis. Im Flur hängt ein Schild: Nazis raus. Kalle hat es im Dezember getragen, als mehr als 15.000 Kölner gegen den Aufmarsch der Hooligans gegen Salafisten und gegen Pegida demonstrierten. Kalle war bei den Protesten gegen den Putsch in Chile 1973 in Köln und bei den großen Friedensdemos in Bonn. „Das schlief dann ein bisschen ein.“ Mit seiner Wohnungskündigung und dem Kampf dagegen kam das Engagement zurück („Das hat mich wieder politischer gemacht“).

Karl-Heinz Gerigk: Aufgewachsen im Kölner Arbeiterviertel Kalk, nach der Schule Lehre zum Elektroinstallateur. Nach einem Motorradunfall konnte er den Beruf nicht mehr ausüben. Fortbildungen bei der Friedrich-Ebert-Stiftung, arbeitete bei der Stadt Köln für die Volkshochschule, machte eine Umschulung zum Bürokaufmann, die 2012 zu Ende war.

Alltag: Kalle hat durch seinen Job viel mit Menschen zu tun, die Wohnungsprobleme haben. „Ach, du bist doch der Kalle“, hört er oft. Seit Kurzem ist Kalle wieder Single („Eine Frau, die sich auf mich einlässt, muss wissen, dass ich viel unterwegs bin“). Sein Engagement in der Antigentrifizierungsbewegung kostet viel Zeit. Er geht zu den Treffen der Initiative Recht auf Stadt („Ich will etwas von dem zurückgeben, was ich erfahren habe“). Immer wieder wird er als Redner für Demos oder Aktionen angefragt. Oft erkennen ihn Leute in Kneipen oder auf der Straße. Nicht allen Mitstreitern gefällt es, dass er so bekannt ist. Manche wollen die politische Auseinandersetzung ohne Personalisierung führen und finden es nicht gut, dass sich Kalle etwa für die Boulevard-Zeitung Express in Pose stellt.

Das erste Date: Er lacht. Kalle kann oder will sich nicht an sein erstes Date erinnern. Auf jeden Fall ist es sehr lang her und fällt in die Lebensphase des Klammer-Blues, in der sich in den 1970ern junge Leute in Partykellern und Garagen näherkamen.

Wie findet er Merkel? „Ich frage mich, ob die Deutschen schizophren sind.“ Sie finden Merkel toll, dabei kritisieren sie die Politik ihrer Partei ständig. Er wünscht sich, dass Merkel Politik fürs Volk macht. „Aber sie macht eine Politik für die Wirtschaft, nicht für die Menschen.“

Wann ist er glücklich? Im Stadion, wenn der 1. FC Köln spielt und gewinnt. Aber wenn er einen wichtigen Termin in Sachen Antigentrifizierung hat, geht er lieber dahin. Das hat sich ein bisschen verschoben.

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