Die Vermessung der Turnwelt

„Es wird viel schneller geturnt, viel komplizierter. Da ist es schwer für das menschliche Auge, zu folgen, und für den Kampfrichter, zu werten“: Ein neues Wertungs- und Videokontrollsystem soll bei der Weltmeisterschaft in Stuttgart die durchaus gängige Bestechung bekämpfen und den Turnsport retten

AUS STUTTGART JÜRGEN ROOS

Wo Menschen sportliche Leistungen bewerten, passieren Fehler. Das ist ein einfacher Satz. Die Sache ist aber nicht einfach. Schon gar nicht bei einer Turn-WM, wo ein menschlicher Fehler darüber entscheiden kann, ob einer Weltmeister wird oder nicht.

Man kann das Problem technisch angehen. „Das Turnen hat sich rasant entwickelt“, sagt Slava Corn, die Vizepräsidentin des Weltturnverbandes FIG, „es wird viel schneller geturnt, viel komplizierter. Da ist es ganz schwer für das menschliche Auge, zu folgen, und für den Kampfrichter, zu werten.“ Ausgerechnet bei den Olympischen Spielen 2004 wurde das Problem augenfällig, als Millionen Fernsehzuschauer beim Reckfinale mit ansahen, wie schwer es das Auge bisweilen hat. Mehr als zehn Minuten lang wurde unter den Pfiffen der Zuschauer „bewertet“, dann erst stand die Medaillenvergabe fest. Viele sprachen von einem Skandal. Der IOC-Präsident Jacques Rogge drohte öffentlich mit einer Beschneidung des Turnens als olympischer Kernsportart.

Die FIG musste reagieren. Verbandspräsident Bruno Grandi drückte ein neues Wertungssystem durch, bei dem die Traumnote 10,0 durch nach oben offene Wertungen ersetzt wurde, die sich nun aus A- (Schwierigkeit) und B-Note (Ausführung) zusammensetzen. Gleichzeitig erteilte der Weltverband einer Schweizer Firma für 500.000 Euro den Auftrag, ein Videokontrollsystem zu entwickeln, das „die Kampfrichter unterstützt, um den Athleten gerecht zu werden“, wie es Slava Corn ausdrückt.

Technisch beeindruckt das „Ircos“ genannte System dadurch, dass zehn Personen 8 Videokameras und 40 Computer bedienen, deren Speicherkapazität (2 Terabyte) ausreichen würde, um 20 Millionen Urlaubsfotos abzulegen. Für die Fairness der Notengebung ist Ircos ein Fortschritt: Sind sich die Kampfrichter nicht einig, kann nachgeschaut werden. Sind die Turner und Trainer mit der Festlegung der A-Note nicht einverstanden, ebenfalls. Die Protestierenden müssen 200 Dollar pro Nachfrage bezahlen, um Missbrauch zu vermeiden. So weit, so gut.

Man kann das Problem auch ethisch angehen. „Natürlich dient das Videosystem dazu, die Kampfrichter zu kontrollieren“, sagt Adrian Stoica, der Vorsitzende des Technischen Komitees der Männer. Es geht dem Rumänen um Anstand. „Denn“, so Stoica, „diese Situation damals in Athen war unnötig, und ich möchte so etwas nie wieder erleben.“

Die FIG-Oberen sind sich klar darüber, dass es Kampfrichter gab und gibt, die falsch oder tendenziös werten. Nach Athen wurden vier der schwarzen Schafe aus ihrem Amt entfernt und die Kontrolle verschärft. Dennoch klagte FIG-Präsident Bruno Grandi noch während der WM 2006 in Aarhus darüber, dass es immer noch zu viele Unparteiische gebe, die nach dem Motto urteilten: Geb ich deinem Turner Punkte, gibst du meinem Turner Punkte. Suspendierungen gab es offiziell zwar keine mehr, aber fast zehn Verwarnungen, weil B-Kampfrichter zu oft vom mittleren Wert abgewichen sind. Dass die FIG nicht über die Zahlen spricht, zeigt, wie brisant das Thema immer noch ist.

So erhöht der Weltverband den Druck. Früher wurden bei einer Großveranstaltung wie der WM nur zwei Ersatzkampfrichter benannt, heute sind es sechs. Was bedeutet: Keiner darf sich sicher sein, jeder ist ersetzbar.

„Gerade jetzt im Jahr vor den Olympischen Spielen in Peking steigt die Anspannung“, sagt Jörg Fetzer, der in Stuttgart am Reck für die Bestimmung der A-Note zuständig ist. Der Sportwissenschaftler aus Leipzig hat beobachtet, „dass einige Kollegen diesem Druck nicht gewachsen sind und sagen: ich höre freiwillig selber auf“. Eine Art natürliche Auslese vor Olympia, wo die Weltöffentlichkeit das Turnen nach den Vorkommnissen von Athen mutmaßlich besonders kritisch beäugen wird.

„Der Stress ist so groß“, sagt Jörg Fetzer, „weil wir gewissermaßen zwischen Baum und Borke hängen.“ Auf der einen Seite steht der nationale Verband, der im Übrigen noch immer die Kosten für die „eigenen“ B-Kampfrichter tragen muss und „irgendwie schon erwartet, dass die nicht gegen das eigene Land werten“ (Fetzer). Auf der anderen Seite steht der Weltverband FIG, der von seinen Kampfrichtern Integrität erwartet und Fehler möglichst ausschließen will.

Ein Zwiespalt, ohne Zweifel. Weil es auch um Geld geht. „Mein Vorschlag wäre, dass die FIG ähnlich wie beim Tennis einen Pool professioneller Kampfrichter bildet, die dann je nach Leistung auf- oder abgestuft werden“, sagt Fetzer. Aber: Turnen ist nicht Tennis und hat nur einen Bruchteil der finanziellen Mittel zur Verfügung. Wer nun allerdings auf den Gedanken kommt, dies sei ein idealer Nährboden für Nachhilfe und Gefälligkeiten der besonderen Art, und diese Gedanken auch noch äußert, der bekommt schnell keine Antworten mehr. Eine Insiderin, die ihren Namen erwartungsgemäß nicht in der Zeitung lesen möchte, sagt nur so viel: „Bestechung hat es gegeben. Früher, als noch nicht so viel kontrolliert wurde.“