Rückkehr an Mielkes Schreibtisch

STASI 1990 wollte Andreas Schreier eine demokratische DDR – ohne Stasi. 25 Jahre nach der Erstürmung des Ministeriums geht er halb amüsiert und halb ernüchtert durch die neue Ausstellung in Lichtenberg

■ Auf dem Gelände der ehemaligen Zentrale des Ministeriums für Staatssicherheit (MfS) soll in den kommenden Jahren ein „Campus für Demokratie“, ein Lern- und Erinnerungsort, entstehen, so der Plan von Roland Jahn, Leiter der Behörde für Stasi-Unterlagen.

■ Derzeit wird das Haus 1 – in dem MfS-Minister Mielke residierte – als Stasi-Museum genutzt; durch das Archiv in Haus 8 werden Führungen angeboten. Weitgehend ungenutzt ist der Versorgungstrakt mit Essenssälen, Kaufhalle und großem Kinosaal.

■ Im Koalitionsvertrag von CDU und SPD heißt es, Berlin wolle das Gelände „künftig als Ort der Aufklärung über Diktatur und Widerstand nutzen und fortentwickeln“. Der Bezirk Lichtenberg hat bei der Planungsgesellschaft Stattbau eine Studie zur Umwandlung in Auftrag gegeben.

■ Die neue Dauerausstellung wird am Samstag mit einem Bürgertag zum Jubiläum „25 Jahre Ende der Stasi“ eröffnet: Ehemalige Stasi-Zentrale Berlin-Lichtenberg, Ruschestraße 103, 11–19 Uhr, Eintritt frei. Das ganze Programm unter www.stasimuseum.de

VON TOBIAS KRONE

Eine Gießkanne mit doppeltem Boden, eine Thermosflasche mit Kassettenrekorder, eine Gürtelschnalle mit Kameralinse. Als Andreas Schreier den Museumsraum mit den Überwachungstechnologien betritt, muss er grinsen. Und holt eine schwarze lederne Federtasche aus seinem Rucksack, sein Souvenir von damals. Auch die war als Tarninstrument vorgesehen. Als besonderes Feature hat sie in der Mitte ein fingernagelgroßes, dezentes Guckloch. Eine Vorrichtung für die Minox-Kamera, die ebenfalls in einer der Vitrinen zu sehen ist.

Der schlanke Informatiker, 50 Jahre alt, langes schwarzes Haar und blitzende Augen, hatte genau hier im Frühjahr 1990 sein Büro. Am Donnerstag eröffnet im Haus 1 des ehemaligen Ministeriums für Staatssicherheit die neue Dauerausstellung „Staatssicherheit in der SED-Diktatur“ des Stasi-Museums. Damals überwachte Schreier mit anderen Bürgerrechtlern vom Zentralen Runden Tisch die Abwicklung des verhassten Geheimdienstes. Ein harter Kampf um das Erbe des Terrorapparats begann.

Zunächst aber mussten die revolutionären Kräfte am Zentralen Runden Tisch, der damals mit der DDR-Regierung von Hans Modrow über die Auflösung der Stasi verhandelte, die Kontrolle über das Ministerium gewinnen – über ein zwei Straßenblöcke großes Gelände mit 30.000 Mitarbeitern in Lichtenberg. „Die Leute sahen den Rauch über dem MfS, sie wollten ihre Stasi-Daten haben und hatten Angst, dass die Akten vernichtet wurden“, erzählt Schreier.

In der Provinz hatten Bürgerkomitees bereits die Stasi-Bezirksämter besetzt. Doch während die Regierung Modrow noch an der Idee eines neuen Geheimdienstes festhielt, lösten Aktivisten des Neuen Forums damals die Debatte auf ihre Weise.

Ein Flugblatt brachte am 15. Januar 1990 Tausende vor dem Gelände zusammen. Unter ihnen auch Andreas Schreier. Am Abend öffnete sich plötzlich das schwere Stahltor an der Ruschestraße, die Massen strömten auf das Gelände – an ihrer Spitze waren möglicherweise Stasi-Leute. Damit erklärt sich Schreier, dass die Mehrheit zum relativ unbedeutenden Versorgungstrakt lief und nicht zu den Archiven mit den sensiblen Stasi-Akten. „Wir rüttelten an der Tür, da flog schon aus einem Fenster im ersten Stock ein Feuerlöscher.“ Auch darin sieht Schreier eine Inszenierung durch die Stasi.

Schüsse fielen an diesem Tag keine, die Volkspolizei hielt sich zurück. Souvenirjäger drangen in die Gebäude, nahmen Bücher mit, entdeckten die Esskonserven der Ministerialbonzen – Lachshälften und Haifischflossensuppe. Das Büro des Ministers für Staatssicherheit Erich Mielke ist in der Ausstellung zu sehen. Roter Teppich, hölzerne Vertäfelung, biedere Gardinen. Sogar die korrekte Anordnung seines Frühstückstabletts hatte Mielke auf einer Karteikarte vermerkt, die Teil der Ausstellung ist – Der Stasiterror im Inneren machte selbst vor der Kochdauer des Frühstückseis „(4 1/2 Minuten)“ nicht halt.

Andreas Schreier selbst bezeichnet sich nicht als Opfer der Stasi. Zwar sei er als kritischer Jugendlicher in seiner damaligen Heimatstadt Wittenberg einmal zum Verhör eingeladen worden, doch er und seine Verbündeten von der Arbeitsgruppe Sicherheit wollten keine Rache üben, nur ein Ende der Bespitzelung. Und Aufklärung: „Unsere naive Idee war: Jedem seine Akte. Die kann er mit nach Hause nehmen.“ Es kam anders.

Den Sommer über arbeiteten Schreier und seine Leute von der Arbeitsgruppe Sicherheit, einer Untergruppe des Zentralen Runden Tischs, daran, die Archive und das System der Stasi zu verstehen und verhörten MfS-Obere – während andere Beamten in aller Ruhe Akten in hoher Zahl vernichteten. Eine skurrile Koexistenz. „Wir wurden verarscht nach Strich und Faden“, resümiert Schreier und streicht sich seufzend eine Haarsträhne aus dem Gesicht. In fast jedem Büro habe ein Aktenschredder gestanden. Auch in der Ausstellung steht ein solches Gerät, eine brusthohe Stele aus Holz. Es erinnert mehr an eine Mühle als an ein elektrisches Gerät.

Nachdenklich blickt Schreier auf das Relikt einer Zeit, in der die Hoffnung blühte: Als Mitglied der vereinigten Linken, einer Initiative aus der oppositionellen Ostberliner Umweltbibliothek, der Kirche von Unten und antifaschistischen Gruppen, träumte er von einer „demokratischen DDR ohne Stasi“. Doch schon im Dezember 1989 hatte sich Helmut Kohl in Dresden bejubeln lassen. Und nur langsam ging es voran mit der Auflösung des Lichtenberger Ministeriums, die die Regierung Modrow im Mai endgültig beschloss.

„Die Leute sahen den Rauch überm MfS, sie hatten Angst, dass Akten verbrannten“

ANDREAS SCHREIER

Mit der Wiedervereinigung war die Überführung der Stasi-Akten in das Bundesarchiv geplant. Damit wären sie 30 Jahre lang verschlossen gewesen, so die damalige Befürchtung. Erneut besetzten Schreier und sein Bürgerkomitee, darunter auch der Liedermacher Wolf Biermann und die DDR-Bürgerrechtlerin Bärbel Bohley, das Stasi-Archiv. Nach einem dreiwöchigen Hungerstreik hatten sie erreicht, dass dem Wiedervereinigungsvertrag ein Anhang beigefügt wurde: Allen interessierten Bürgern sollte der Zugang zu den Akten gewährt werden. Der Weg für die Bundesbehörde für Stasiunterlagen war geebnet.

Unter dem damaligen Chef der Behörde, Joachim Gauck, einem Kompromisskandidaten zwischen Linken und Konservativen, hatte Schreier nichts mehr zu sagen: „Gauck hatte uns zwar versprochen: ‚Ihr werdet alle eingestellt‘, aber die westdeutschen Beamten, die dann kamen, wollten keine Radikalen in ihren Reihen“, sagt Schreier, während er die lichtdurchflutete Treppe des Ministerialgebäudes nach unten nimmt. Mielkes Palast, eine architektonische Mischung aus stalinistischem Klassizismus und Nachkriegs-Sachlichkeit wurde 2011 für 11 Millionen Euro saniert. Mit seinen vergoldeten Fensterrahmen entbehrt es nicht einer gewissen nostalgischen Eleganz, auch wenn der Paternoster nicht mehr in Betrieb ist, was Schreier bedauernd feststellt.

Der revolutionäre Geist verließ Schreier nach der Wiedervereinigung schnell: „Das war nicht mehr mein Land, das da Kohl zujubelte.“ Im neuen Deutschland gab es den Verfassungsschutz und den BND. In Prenzlauer Berg, wo er wohnte, wurden plötzlich – für Ostverhältnisse – die Mieten hoch. Von einem Tag auf den anderen in ein neues System zu wechseln, „das war für uns eine große Umstellung“, erzählt Schreier, während der schneidende Wind die Abdeckungsplane des Baugerüstes gegenüber laut plattern lässt. Noch vor seiner Freistellung für die Abwicklung der Stasi hatte der gelernte Ingenieur an einem Institut gearbeitet. Das gab es nun nicht mehr. Von nun an arbeitete er als Journalist, ehe er 1996 ins Internetgeschäft wechselte.

Draußen läuft Schreier Dankwart Brinksmeier in die Arme, Mütze, grauer Bart. Der Studentenpfarrer war damals mit Schreier am runden Tisch und begleitet gerade ein Kamerateam des MDR durchs Stasimuseum. Kurze Begrüßung zwischen den beiden nach 20 Jahren. Schreier fragt: „Sagt dir noch der Telegraf was?“ Das damals „wichtigste Oppositionsblatt“ führt Schreier mit Aktivisten bis heute weiter. Brinksmeier stutzt. Da hat Schreier schon die neueste Ausgabe gezückt und drückt sie ihm in die Hand. Der Geist von 1990. Für einen kurzen Moment weht er über den Platz.