Auf dem Baumkronenpfad

Zehn Meter über dem Boden, auf Augenhöhe mit Spechtlöchern und Federmaushöhlen. Ein Aufzug bringt auch Rollstuhlfahrer und Gehbehinderte in die Höhe. Besuch im Nationalpark Hainich

Auf dem Baumwipfelweg gibt es auch nachts Begehungen

VON ANNETTE JENSEN

Ohne den Menschen sähe es in Deutschland heute zu einem Großteil ähnlich aus wie im Hainich: Ein hoher Buchenblätterschirm überspannt den krautbedeckten Boden und sorgt im Sommer für angenehme Kühle. Hier und da hat es einen Baumriesen niedergestreckt – für die Jungen die Chance, endlich ans Licht zu kommen. Auf den morschen Stämmen am Boden wachsen Mooskissen; zwischen den Rissen im Holz krabbeln Käfer, Asseln und Würmer.

15.000 Hektar groß ist der Hainich, ein schmaler Höhenzug in Westthüringen. 1998 wurde hier – wo in weiten Teilen seit Mitte der 30er-Jahre nur Militärs Zugang hatten – der erste deutsche Laubwald-Nationalpark errichtet. Ohne Zweifel sein größter Besuchermagnet ist der einzige Baumkronenpfad Europas.

Von unten sieht das massive Metallgestänge wie eine Schwebebahn aus, die sich dicht an den Baumstämme entlang schlängelt. Über eine Wendeltreppe erreicht man den gut gesicherten Bohlenweg; ein Stück weiter transportiert ein Aufzug auch Rollstuhlfahrer und Gehbehinderte in die Höhe. Zehn Meter über dem Boden sind die Besucher zunächst auf Augenhöhe mit Spechtlöchern und Federmaushöhlen. Eine grüne Wanze frisst ein Loch in ein farbgleiches Lindenblatt, an einer Buche haben Gelbwespenlarven ihre roten, an Nadelspitzen erinnernden Eier abgelegt. Unter den Füßen der Besucher brütet unbeirrt eine Taube.

Langsam, ganz langsam geht es aufwärts. Eine Windböe fährt ins Geäst und lässt den Stamm eines Spitzahorns schwankten. Der biegt sich erstaunlich weit vor und zurück, dann pendelt er sich langsam in einem Kreis ein. Seit mehreren Jahrzehnten geht das nun schon so – und staunend fragt sich der Besucher, wie ein so dünner, langer Stamm so stabil und standhaft sein kann.

Nach einer Weile fällt der Blick zunehmend von oben auf das Blättermeer; der Boden ist nur noch an wenigen Stellen zu sehen. Hier in 24 Meter Höhe zaust der Wind die Wipfel, es wogt und rauscht. Während eine Mönchsgrasmücke plötzlich aus dem Grün auftaucht, ein paar hastige Züge im Himmel zurücklegt, um dann wieder zu verschwinden, schweift der Blick in das weite Tal des Thüringer Beckens. In der Höhe kreist ein Rotmilan.

An den Rändern des Hainich bestimmt langsam verbuschendes Grasland das Bild. Jahrzehntelang haben zunächst Wehrmacht, später Rote Armee und NVA hier ihre Waffen ausprobiert und Schießübungen veranstaltet; im südlichen Teil frästen sich Panzerketten tief ins Gelände. In den Spurrillen sind Tümpel entstanden – ein El Dorado für Gelbbauchunken, die nirgendwo sonst heute in Deutschland in so großer Zahl vorkommen. Auch viele Orchideenarten gedeihen hier. Doch ihre Tage an diesem Standort sind gezählt. Denn im Nationalpark gilt: Natur Natur sein lassen. Nicht die einzelne Art genießt hier Schutz, sondern der dynamische Prozess des natürlichen Wandels. Schon erobern Schlehen und Weißdornbüsche die sanften Hänge, und zwischen ihrem piksenden Gestrüpp sind auch Eschenschößlinge vor knabbernden Rehen geschützt. Nach und nach wird es schattiger werden – und irgendwann werden wohl auch hier mächtige Buchen das Bild bestimmen.

Der Hainich-Nationalpark will auch Menschen den Zugang zur Natur ermöglichen, die sonst keine Chance haben, einen Wald selbständig zu erkunden: Blinde, Rollstuhlfahrer und Gehbehinderte. Holzplanken begrenzen den Brunstal-Erlebnispfad, und immer wieder gibt es Stationen, an denen etwas zu lesen, vor allem aber zu erspüren und auszuprobieren ist. Jeder Besucher ist hier eingeladen, Nase, Ohr und Tastsinn zu nutzen. Aufgebockt auf einem Ständer schwebt die Wurzel einer Buche in Augenhöhe über dem Boden. Aus der lössig-satten Erde staken armdicke Wurzeln hervor. Wer mit den Händen daran entlangfährt, ertastet an der glatten Rinde Verzweigungen. Die werden feiner und feiner, bis schließlich zwischen Daumen und Zeigefinger nur noch zwirnartige Fäden zu spüren sind. Über der Erde neben dem Stamm haben sich Moosarten angesiedelt, und eine junge Ahornpflanze streckt ihre ersten Blättchen in Richtung Sonne. Ein paar Minuten weiter lockt schon die nächste Attraktion: Kräftemessen mit den Ameisen. Die können zehnmal so viel schleppen, wie sie selbst wiegen. Wer dagegen als Mensch so viel wie sein eigenes Körpergewicht gestemmt kriegt, darf sich stark fühlen.

Nicht nur für Behinderte ist der drei Kilometer lange Brunstalweg besonders geeignet, sondern auch für Familien. Die Nationalparkverwaltung und Dutzende ehrenamtliche Helfer sorgen außerdem für ein vielfältiges Veranstaltungsangebot. Auf dem Baumwipfelweg gibt es auch nachts Begehungen, um Fledermäuse oder Insekten zu beobachten. Eine Märchenerzählerin lässt Hänsel und Gretel lebendig werden, und einmal im Monat ist Forschertag, an dem die Besucher Bodenorganismen kennenlernen oder die Vogelwelt erkunden können. Geplant ist außerdem ein Freigehege mit Wildkatzen, weil sonst kaum jemand die Chance hat, die hier vorkommenden Tiere jemals zu Gesicht zu bekommen.

Der Klimawandel wird auch vor dem Hainich nicht haltmachen. Das aber war schließlich schon immer so. Erst vor 3.000 Jahren brach hier das Buchenzeitalter an; davor dominierten noch andere Gehölze, die nach der letzten Eiszeit von Süden eingewandert waren. Wie es längerfristig weitergeht in diesem Stück Wildnis mitten in Deutschland, weiß niemand.