: Ohne weitere Erläuterung
FILM Auch Gefängnisinsassen sind „Städtebewohner“. Die Akademie der Künste stellt den gleichnamigen Dokumentarfilm von Thomas Heise vor, zusammen mit Büchern dieses ungewöhnlichen Chronisten
VON LUKAS FOERSTER
Ein junger Mann, eigentlich eher Junge als Mann, hat es bereits hinter sich gebracht. Er verabschiedet sich von seinen Mitgefangenen sowie von den Wachleuten, die ihn ihrerseits wohlwollend paternalistisch entlassen und von gelungenem „Teamwork“ sprechen. Er hat einen ganzen Parcours abzulaufen, bis er schließlich von seiner Mutter in Empfang genommen wird und das Gefängnis, in dem er die letzten vier Jahre verbracht hat, verlässt. In dem Moment, in dem sich die Tore der Anstalt endgültig hinter ihm schließen, fallen der Blick des Mannes und der Blick des Films in dem Sinne in eins, als beide auf eine komplett offene Zukunft gerichtet sind.
Nur zu leicht kann man sich einen Dokumentarfilm über ein mexikanisches Jugendgefängnis vorstellen, der mit diesem Moment enden würde. Thomas Heises Städtebewohner allerdings stellt die entsprechende Szene fast ganz an den Anfang. Schon einen harten Schnitt später befindet sich die Kamera wieder im Gefängnishof. Auch der junge Mann wird später wieder innerhalb der Mauern zu sehen sein – weil der Film in der Zeit zurückgesprungen ist und weil Heise kein Interesse daran hat, ein typisches Gefängnisschicksal nachzuerzählen.
Überhaupt vermeidet der Film jedes Pars pro Toto. Zum Beispiel wird zwar durchaus einiges gesprochen, aber es fällt kein einziger Satz, der dazu angetan wäre, das jeweils gezeigte Besondere mit einem Allgemeinen zu vermitteln. Zwei der Gefangenen erzählen ausführlicher aus ihrem Leben. Einer sagt, er sei unschuldig verurteilt worden, ein anderer erzählt, wie er sein Opfer erst in die Brust, dann in den Kopf geschossen habe.
Der Film lässt beides nebeneinander stehen. Auch drei Gedichte aus Berthold Brechts „Lesebuch für Städtebewohner“ dringen ohne weitere Erläuterung und ohne eindimensional allegorischen Mehrwert in den Film ein; eines davon wird, in spanischer Übersetzung, von einem Häftling verlesen, während im Hintergrund, auf der nicht nur in dieser Szene kunstvoll gestalteten Tonspur, der Gefängnisalltag weiterläuft.
Die Aufnahmen der in der Mehrzahl vor Kraft strotzenden Gefangenen haben gelegentlich einen Hang zum Statuarischen, was sich auf interessante Weise mit der absichtsvollen Unaufgeräumtheit der sonstigen Inszenierung bricht. Heises (beziehungsweise Robert Nickolaus’) Kamera verdoppelt nicht das Kontrolldispositiv „Gefängnis“, sondern gewinnt der Haftanstalt immer wieder Kadrierungen ab, die sich zu deren einschließender, beengender Funktion in einen sanften Widerspruch setzen. Bei einem langsamen Schwenk über den Gefängnisgarten, in dem die Jungs mit Besuchern beisammen liegen, meint man jedenfalls fast, einen x-beliebigen Großstadtpark an einem gemütlichen, sommerlichen Sonntagnachmittag vor sich zu haben.
Auffällig viele Szenen drehen sich um derartige Begegnungen der Gefangenen mit ihren Angehörigen, um Kontaktzonen, um Bewegungen von außen nach innen, von innen nach außen. Tatsächlich ist das Gefängnis in Heises Film keine Einschließungsanstalt; und es ist auch keine Institution des Ausschlusses aus der Gesellschaft. Vielleicht könnte man eher sagen – aber das ist doch wieder eine jener allegorischen Verkürzungen, derer sich der Film eigentlich erwehrt –, dass das Prinzip des Gefängnisses die Gesellschaft als Ganzes umschließt. Und in einem solchen, allumfassenden Gefängnis ist es letzten Ende egal, ob die Türen offen oder geschlossen sind.
„Städtebewohner“ porträtiert weniger eine Institution als eine Gemeinschaft (dazu passend der Name des Gefängnisses: „Communidad San Fernando“), zu der die im Gefängnis ebenso gehören wie die im Freien. Und auch die friedlich watschelnden Enten im Hof, auf die Heise einmal mit lakonischer, aber nicht bösartiger Ironie direkt im Anschluss an eine Parade der Gefängniswärter schneidet.
Die Akademie der Künste zeigt „Städtebewohner“ in ihrer Reihe „Mitglieder stellen sich vor“ und präsentiert zugleich zwei Bücher: Zum einen wird der Sammelband „Über Thomas Heise“ vorgestellt, der Ende 2014 bei Vorwerk 8 erschienen ist. Der zeichnet die gesamte Filmkarriere des Dokumentaristen nach, von den Anfängen im Defa-Studio für Dokumentarfilm über die Arbeiten zur deutschen Zeitgeschichte, die 2009 im monumentalen Notizbuchfilm „Material“ kulminierten, bis zu den äußerst eklektischen Werken der letzten Jahre. Zum anderen darf man auf einen weiteren Band gespannt sein, der brandneu ist und heißt wie der aktuelle Film.
■ „Städtebewohner“, Film und Gespräch, heute 19 Uhr, Akademie der Künste am Hanseatenweg
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