Reizüberflutung: Entspannen Sie sich im Grünen

Dass uns „Reize überfluten“, ist die liebenswürdig und denkwürdig verschleiernde Rede dafür, dass wir Menschen des 21. Jahrhunderts unter einem Dauerbeschuss von Informationen, Bildern und Zumutungen aller möglichen sensorischen Couleur stehen, die in so kompakten Zeiteinheiten in uns dringen, dass der Organismus kaum Chancen hat, sie zu verarbeiten. Das Wort „Reizüberflutung“ hat in seiner wässrigen Metaphorik trotz der impliziten Katastrophenwarnung etwas naturalistisch Betuliches, das dem Vorgang, den es bezeichnen will, beileibe nicht gerecht wird.

Tatsächlich geht es in der unwiderruflich modernen Welt um ein Stakkato der Eindrücke, ein gemischtes Trommelfeuer der gezielten und diffusen Stimuli, für die „der Mensch“ nicht und niemals konstruiert war. Dass wir, die allen Instinkten entbundenen Spätmenschen, dem gleichwohl standhalten, muss als Kennzeichen der eigentlichen Qualität unserer Gattung verstanden werden: Als Spezialisten fürs Unspezialisierte und gnadenlose Anpassungsgenies schaffen wir es, unsere physiologischen Grenzen dauernd zu verschieben.

Zur Erinnerung: Als die ersten Eisenbahnen fuhren, keine sechs Generationen ist es her, verfielen Viele der Reisenden in Schlaf, weil ihr Wahrnehmungsapparat dem übermenschlichen Tempo von fast 40 Stundenkilometern nicht gewachsen war. Zu viele wechselnde Bilder pro Wahrnehmungseinheit überstiegen das Fassungsvermögen ihrer Sinne. Im nicht enden wollenden Zeitalter der Beschleunigung wird dieser Adaptionsvorgang immer und immer wieder geübt, verlangt und weiter getrieben. Wir leben, physiologisch und psychologisch, in einem endlosen Schleudertrauma. Die Folgen spürt jeder, die Klage darüber ist ebenso Teil des alltäglichen Klangteppichs wie der Theorien über die Lebensbedingungen der Moderne, aber sie bleibt eklatant folgenlos.

Hingegen können wir nüchtern konstatieren: Ein immer größerer Teil der Kinder leidet unter behandlungsbedürftigen Konzentrationsschwierigkeiten. Ursache: unbekannt. Dem Anschein nach ist mit der schier grenzenlosen Adaptionsfähigkeit auch ihr Gegenpol, das Aufmerksamkeitsmangelsyndrom, die konstitutionelle Schusseligkeit, in unseren Genpool eingewandert. Die zeitgenössische Poolparty der flutgeilen Nichtschwimmer sieht den bereitwilligen Überanpasser Rettungsring an Rettungsring mit dem rettungslos Überforderten im Becken: Prost!

Das menschliche Prinzip der Selbstzucht und -auslese, das uns als Gattung die entscheidenden Überlebensfortschritte brachte, ist nun offenbar doch an eine Grenze eigener Art gestoßen: Die Evolutionserfolge sind von ihren Risiken und Nebenwirkungen nicht mehr trennscharf zu unterscheiden. Und über ihren Zusammenhang kann kein Arzt oder Apotheker stimmig informieren. Eben deshalb zieht es immer mehr Zivilisationsmüde in den Bannkreis obskurer Praktiken und Gruppen. Die Ruhe, aus der einmal die Kraft kommen sollte, scheint in den Zentren unseres Lebens nicht mehr auffindbar.

Vielleicht doch: Schauen sie auf dieses Bild. Schauen Sie einfach auf dieses Bild. Eine ganze Minute lang! Christian Schneider