„Politische Bilder sind immer subjektiv. Es ist meine Sicht auf das Ereignis.“ Interview mit der Fotografin Barbara Klemm

Geboren: 27. Dezember 1939 in Münster, als Tochter des Malers Fritz Klemm.

Karriere: Ausgebildet in einem Foto-atelier in Karlsruhe. 1959 begann sie zunächst im Labor der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, arbeitete dort aber bald als freie Fotografin; 1970 wurde sie fest als Redaktionsfotografin angestellt. Seit 2005 ist sie pensioniert und arbeitet an verschiedenen Projekten.

Ihre Bilder: Schwerpunkte ihrer Arbeit sind Politik und Feuilleton, zahlreiche ihrer in der FAZ erschienenen Fotos sind zu Ikonen der deutschen Zeitgeschichte geworden. Eine Auswahl war 1999 in der Ausstellung „Unsere Jahre. Bilder aus Deutschland 1968-1998“ im Deutschen Historischen Museum in Berlin zu sehen.

Ihr Stil: Außer mitten im Pulk der Kollegen zu fotografieren, sucht Klemm auch die andere Perspektive. Mit außergewöhnlichen Bildausschnitten gelang es ihr häufig, nicht nur das politische Tagesgeschehen abzubilden, sondern geschichtsträchtige Mo-mente einzufangen.

Preise: Dr.-Erich-Salomon-Preis, Hugo-Erfurth-Auszeichnung, Maria-Sibylla-Merian-Preis für bildende Künstlerinnen in Hessen, Hessischer Kulturpreis 2000 und andere .

Klemm über Klemm: „Dass ich immer wieder mit anderen Menschen zu tun habe und bei jedem einen Weg finden muss, mit ihm zu kommunizieren, reizt mich an meinem Beruf.“

Susanne Lang

taz: Frau Klemm, damals bei der 30. Jahrestagsfeier der DDR haben sich Erich Honecker und Leonid Breschnew plötzlich vor den Kameras auf den Mund geküsst - Sie haben als Einzige keine Nahaufnahme gemacht. Weshalb?

Barbara Klemm: Für viele war das Close Up das intensivere Bild - nur die beiden Männerköpfe, die sich beinahe zungenküssen! Aber mich interessiert bei solchen Anlässen mehr die Szene, in der die Personen agieren. Im ersten Moment ist sicher das Detail stärker. Aber wenn Sie mein Bild noch mal betrachten, dann sehen Sie rechts im Hintergrund auch den damaligen Außenminister der Sowjetunion, Gromyko, und Tschernjenko - den späteren Nachfolger von Breschnew. Anders als das klatschende Politbüro interessieren sie sich überhaupt nicht für den Kuss, sondern unterhalten sich.

taz: Sie ahnten damals schon, dass Tschernjenko wichtig werden würde?

Nein, das kann keiner. Es ist nur ein Beispiel dafür, dass Bilder im Verlauf der Zeit noch mal eine andere Geschichte bekommen können. Manche Dinge nimmt man nur unterbewusst wahr und findet es später auf dem Negativ wieder.

taz: Wenn Sie aus den Negativen später das Bild für die Öffentlichkeit auswählen, wiegt dabei sein politisches Gewicht mehr als die Komposition?

Da sollte beides zusammenkommen. Wer für eine Zeitung fotografiert, muss selbstverständlich den politischen Inhalt transportieren. Der bleibt aber ein subjektiv empfundener. Es ist meine Sicht auf das Ereignis, meine Umsetzung. Manchmal zeigt sich erst sehr viel später, dass man einen geschichtlichen Moment eingefangen hat.

taz: Bei einem geschichtlichen Moment wussten Sie, dass er einmalig ist: dem Fall der Mauer. War es einfacher, ihn in Bildern festzuhalten?

Ja, die geschichtliche Dimension war klar. So eine Gelegenheit erhält man in seinem beruflichen Leben, wenn man Glück hat, nur einmal. Mein Interesse galt damals neben der dokumentarischen auch der gestalterischen Ebene der Fotos: dass ich es schaffe, die Situationen so zu verdichten, wie es mir etwa in dieser Nachtaufnahme vom Brandenburger Tor geglückt ist.

taz: Wie lange hat es gedauert, bis Sie diese perfekte Komposition gefunden haben?

Zunächst bin ich wie alle anderen Kollegen vier Stunden im Regen gestanden und habe versucht, die Politiker Helmut Kohl und Hans Modrow auf das Bild zu bringen. Wie Sie sich vorstellen können, fotografierten wir das in einer großen Ähnlichkeit: die beiden vor dem Brandenburger Tor. Das war ja der Auftrag der Zeitung, die Öffnung des Brandenburger Tors zu dokumentieren. Mein Interesse galt damals wie immer neben der Dokumentation auch der Komposition.

taz: Also haben Sie nach einem eigenen Motiv gesucht?

Als ich mich völlig erschöpft und nass auf den Rückweg in den Westen machte, habe ich mich nochmals umgedreht. Zufällig. Und sehe dieses unglaubliche diffuse Licht um das Brandenburger Tor, das wohl von den Fernsehteams kam. Diese Atmosphäre - ich dachte nur: Das ist es. Das habe ich gesucht.

taz: Das klingt doch wunderbar, wo war das Problem?

Na ja, es war nachts, ich musste mit einem hoch empfindlichen Film und Teleobjektiv auf einem Absperrgitter arbeiten. Die Höhe war wichtig, weil ich Luft brauchte zwischen den Personen auf der Mauer und dem oberen Abschluss des Brandenburger Tors. Ich habe einen ganzen Film belichtet aus Angst, zu verwackeln oder dass das Transparent nicht lesbar wäre ...

taz: „Deutschland, einig Vaterland“ stand dort zu lesen, die in der DDR verbotene Zeile der Nationalhymne, aber nur spiegelverkehrt ...

Das war natürlich wunderbar, nicht so platt! Leider hielten zwei Personen das Transparent, es rutschte immer wieder zusammen - eine tüftelige Arbeit. Zum Glück war ein Negativ dabei mit dem Bild, das ich gesucht habe.

taz: Weswegen war diese Szene für Sie das Wunschbild?

Weil das Brandenburger Tor für mich das Symbol der Teilung verkörpert. Eigentlich war ich am Tag der Öffnung gerade erst nach Frankfurt zurückgekommen, ich war völlig erschöpft, aber die Vorstellung, nicht in Berlin fotografieren zu können, hat mich wirklich verrückt gemacht. Wo ich mich die ganze Zeit über so bemüht hatte, diese geschichtlichen Bilder zu bekommen! Meine Bildredaktion hat mir dann zum Glück noch einen Flug besorgen können, hin und zurück - was damals gar nicht so einfach war.

taz: Heute könnten Sie die Bilder wenigstens digital übermitteln.

Bei uns war es dann eben einen Tag später in der Zeitung. Das ging. Es ist ein bisschen auch der Wahnsinn der Zeit, zu glauben, es müsste alles auf der Stelle geschehen. Ich verstehe, dass der Druck existiert. Ob es die bessere Art ist, eine Zeitung herzustellen, das ist die andere Frage.

taz: Was spricht denn eigentlich gegen Digitalfotografie?

Es entspricht nicht meiner Art zu fotografieren. Mir sind die Bilder oft zu perfekt.

taz: Der subjektive fotografische Blick verändert sich?

Ich denke schon. Es wird sehr viel mehr fotografiert, weil man sofort wieder löschen kann. Negative dagegen habe ich zumindest noch nie weggeworfen. Gerade im Journalismus kann es passieren, dass ein vermeintlich unwichtiges Bild in zwei Jahren eine enorme Bedeutung erhält. Denken Sie nur daran, als Günter Guillaume als Spitzel von Willy Brandt enttarnt wurde - da haben wir natürlich alle auf unseren Kontakten gesucht, wo er im Hintergrund oder neben Willy Brandt zu sehen war.

taz: Von Brandt haben Sie ja ein weiteres, mittlerweile legendäres Bild gemacht: im Dialog mit dem Generalsekretär Breschnew beim ersten Spitzentreffen in Deutschland, 1973 in Bonn.

Auch das Bild wurde zunächst nicht gedruckt, sondern eines, auf dem Breschnew den Finger auf dem Ärmel von Willy Brandt hat und auf ihn einredet. Die Szene war längst nicht so stark wie dieses Bild, das später - das kann man vielleicht wirklich sagen - eine Ikone geworden ist.

taz: Wieso wurde es nicht sofort veröffentlicht?

Wenn Sie die Negative später, ohne den Druck der Aktualität nochmals durchgehen, suchen Sie vielleicht etwas anderes aus. Denn unter diesem Druck steht jede Tageszeitung. Da kann es immer wieder passieren, dass man beim ersten Mal nicht das Richtige aussucht. Zumal dieser Termin damals mein erster politischer Auftrag war auf der internationalen Bühne. Deshalb war der Stress groß. Ich wusste nicht, ob ich an die wichtigsten Bilder kommen würde.

taz: Wie haben Sie es denn dann geschafft?

Durch einen Tipp eines Mitarbeiters vom Auswärtigen Amt habe ich es geschafft, trotz einer anderen Poolkarte zu dem Treffen vor dem Mittagessen ins Kanzleramt hineinzukommen. Breschnew sah mich, deutete auf mich und sagte, wie mir die russischen Kollegen nachher übersetzt haben: „Ha, endlich mal eine Frau, euch Männer habe ich ja immer.“ Dann hat er sich mit Brandt für mich in Pose gestellt. Das war das erste Bild, das die Zeitung brachte. Die intensive Gesprächssituation der wirklich guten Bilder ergab sich erst danach. Das Ganze war eine glückliche Situation für mich.

taz: Ein besonders wichtiges wahrscheinlich, es war Ihr erster großer Termin?

Ja, schließlich kam das Material der Agenturkollegen zum Vergleich in der Redaktion auch immer auf den Tisch ...

taz: Hatten Sie da manchmal das Gefühl ...

... dass meine Bilder schlechter waren?

taz: Nein - wie kommen Sie darauf?

Weil es auch vorkam. Es gibt sehr gute Agenturkollegen, allerdings liest man leider fast nie ihre Namen, sondern nur das Agenturkürzel.

taz: Die Frage war, ob Sie beim Abgleich mit den anderen Bildern jemals das Gefühl hatten, auf einem komplett anderen Termin gewesen zu sein?

Bei Demonstrationen zum Beispiel 1981 auf der Startbahn West, da gab es eine Menge von Bildern, die alle unterschiedlich ausgefallen sind. Dass ich ein besonderes Bild hatte - Polizei auf der einen Seite, Demonstranten auf der anderen, getrennt durch einen Graben -, lag einfach an meiner Angst, zwischen die Fronten zu geraten und kein gutes Bild zu bekommen. Deshalb bin ich auf einen VW-Bus gestiegen und habe dadurch diese wunderbare Komposition geschaffen.

taz: Sie hatten gar nicht die Absicht, beide Seiten einzufangen aus einer objektiven Perspektive?

Doch, nur die ist manchmal schwer zu bekommen.

taz: Haben Sie jemals ein Bild inszeniert?

Nein, im Vordergrund meiner journalistischen Arbeit stand immer die Dokumentation.

taz: Gerade im Zusammenhang mit Demonstrationen gibt es oft die Debatte über manipulative Bilder, zuletzt beim G-8-Gipfel. Hat sich da etwas verändert?

Selbstverständlich wollen viele Zeitungen mit Bildern Politik machen, auch die FAZ. In der Zeit der Studentenbewegung war es für mich etwas schwieriger geworden. Wenn ich Polizisten fotografiert habe zum Beispiel, die draufgeknüppelt haben, wurden diese Bilder nicht immer gerne gezeigt. Oder der Inhalt wurde über die Bildunterschrift in eine andere Richtung interpretiert, als ich es erlebt hatte. Damit war ich natürlich nicht glücklich, aber das kam doch selten vor.

taz: Ein anderes legendäres Demo-Bild haben Sie 1983 in Mutlangen gemacht, als Heinrich Böll und andere Intellektuelle gegen die Stationierung von Pershing-Raketen protestierten. War das ähnlich schwierig zu bekommen?

Nein, gar nicht, damals hatte ich mein Bild sofort. Die Demo war am 1. September, dem Tag, als Deutschland 1939 in Polen einmarschierte, genau um 5 Uhr 45. Ich kam um fünf Uhr morgens dort an. Leider war es noch so dunkel, dass ich ohne Blitz keine Chance hatte. Dabei sah ich eine perfekte Szene: Heinrich Böll saß am Rande auf einem Hocker, und seine Mitstreiter scharten sich um ihn herum: Oskar Lafontaine, damals immerhin schon Ministerpräsident vom Saarland, Bastian und Petra Kelly von den Grünen und die Frau von Böll. Weil es so dunkel war, dass ich kein Bild machen konnte, dachte ich, ich werde verrückt.

taz: Ihr Bild, das veröffentlicht wurde - wie haben Sie es dann bekommen?

Damals hat mich das Fernsehen gerettet mit einer Handleuchte, die die Akteure angestrahlt hat. Und da hatte ich mein Bild. Ich wusste, dass es gut ist, und bin sofort in die Redaktion gefahren. Um 16 Uhr lag das Bild auf dem Tisch.

taz: Sie haben wirklich nur das eine Bild gemacht?

Nein, aber es war mir bewusst, dass dieses eine die Stimmung der Friedensbewegung mit Böll und seinen „Jüngern“ wie in einem Gemälde eingefangen hat.

taz: Wer ist schwieriger in Momenten zu erleben, die etwas Tieferes aussagen: Politiker, Intellektuelle oder Kulturschaffende?

Das ist individuell ganz unterschiedlich. Aber es ist schwieriger geworden, von politischen Ereignissen besondere Bilder zu machen. Nicht nur der Pressepulk ist größer geworden, auch die Politiker sind sich des Bildes sehr viel bewusster und zeigen meist nur das, was sie in den Medien sehen wollen.

taz: Musiker verhalten sich heute kaum anders. Wie gelang Ihnen damals dieses grandiose Bild von Wolf Biermann bei seinem Konzert vor seiner Ausbürgerung aus der DDR?

Es gab schon immer Ärger mit Backstage-Privilegien, die ich nie hatte. Aber man konnte doch seine Bilder machen. Bei Biermann stand ich zunächst wie alle anderen Kollegen auch vor der Bühne, um ihn beim Singen zu porträtieren. Gleichzeitig war mir sehr wichtig, dass auf dem Zeitungsbild klar werden sollte, dass er vor einer großen Zuschauermenge gesungen hat, was er in der DDR nicht konnte. Deshalb bin ich nach dem Konzert hinter die Bühne gerannt und habe gehofft, dass ich ihn dort einen Moment zusammen mit dem Publikum im Hintergrund erfasse. Dass er so glücklich und berauscht aussehen würde, konnte ich nicht wissen.

taz: In einer ganz anderen existenziellen Situation sind Sie Menschen auch sehr nahe gekommen mit Ihrer Kamera: bei der Beerdigung von Heiner Müller. War das eine schwierigere Situation?

Ich kann nur sagen, dass man das eigentlich gar nicht machen möchte. In dem Fall war es so, dass ich bei der Trauerfeier erfahren habe, dass die Presse nicht auf dem Friedhof dabei sein könnte. Ich bin trotzdem hingefahren. Als die Trauergemeinde ankam, habe ich Alexander Kluge gefragt, ob er mich mit hinein nimmt - und er sagte: ja. Das sei ein geschichtlicher Moment, den man festhalten müsse. So fühlte ich mich ermutigt, aus einiger Entfernung das Bild von den Trauernden, die sich umarmen, zu fotografieren.

taz: In dem Katalog Ihrer Ausstellung „Unsere Jahre. Bilder aus Deutschland 1968-1998“ ist ein Zitat von Salman Rushdie vorangestellt: Fotografie ist immer eine moralische Entscheidung. Stimmen Sie zu?

Natürlich. Wenn ich Menschen fotografiere, muss ich mich überwinden, weil die Intimsphäre berührt wird. Die Menschen müssen mir vertrauen, sie wissen nicht, was mit dem Bild in der Öffentlichkeit passiert. Mir fällt die Überwindung heute noch schwer, und es gibt Bilder, die ich nicht gemacht habe.

taz: Haben Sie ein Beispiel?

Wenn ich in Ländern war, wo große Armut herrscht. Manchmal denke ich trotzdem, man müsste es zeigen, um die anderen aufmerksam zu machen. Leider ändern Bilder nur nichts an der Armut. Früher hatte ich immer gehofft, mit einem Bild etwas bezwecken zu können. Die Hoffnung habe ich kaum mehr. Interview: Susanne Lang