Ist der Krieg in Afghanistan verloren?
JA

MILITÄR Vor genau zehn Jahren begannen die USA ihre Offensive am Hindukusch, den „Krieg gegen den Terror“. Jetzt ziehen die Truppen ab

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Björn Kunter, 41, Geschäftsführer des Bunds für Soziale Verteidigung, ist taz.de-Leser

Je länger der Krieg dauert, desto mehr Verlierer wird es geben. Die Menschen in Afghanistan haben den Krieg schon 2001 verloren, als die Siegermächte beschlossen die Warlords und Menschenrechtsverbrecher zu den neuen Herrschern Afghanistans zu machen. Sie verloren, als der Sieg nicht genutzt wurde, um Frieden zu schließen und eine politische Lösung zu finden, sondern stattdessen der Krieg gegen die Taliban fortgesetzt wurde. Sie verloren, als eine (korrupte) Herrschaft von oben eingesetzt wurde, anstatt die Demokratie von der lokalen Ebene aufzubauen. Sie verloren, als der Westen beschloss den Drogenanbau zu tolerieren, aber den Mohn nicht aufzukaufen, und sie dadurch die finanzielle Grundlage für den Erfolg der Taliban und der Familie Karsai legten. Sie verloren, als die Nato alle Jahre wieder eine neue Strategie verkündete, ohne wirklich eine zu haben. Sie verloren, als Karsai die Wahlen fälschte und die Nato dabei billigend zusah. Die Menschen in Afghanistan verlieren diesen Krieg an jedem Tag, an dem die Taliban nicht zu Verhandlungen eingeladen, sondern „an den Tisch gebombt“ werden. Ob und wie die Nato diesen Krieg verliert, wäre dagegen bedeutungslos, wenn sie nicht aus Angst vor der Niederlage immer weitermachen würde.

Omid Nouripour, 36, ist Sicherheitsexperte der Grünen im Bundestag

Der Krieg in Afghanistan ist gescheitert. Die USA und die Nato zogen 2001 mit falschen Erwartungen und ohne politische Strategie an den Hindukusch. Sie setzten einseitig auf militärische Instrumente, der zivile Aufbau und politische Lösungsansätze kamen stets zu kurz. Das zeigt erneut, dass Konflikte mit militärischen Mitteln alleine nicht zu lösen sind. Am Ende von gescheiterten Kriegen kehren die Konfliktparteien üblicherweise an den Verhandlungstisch zurück. Dort sitzt die internationale Gemeinschaft bisher alleine. Eine Lösung ist nicht in Sicht, obwohl sie alternativlos ist. Bis dahin ist die internationale Gemeinschaft weiter in der Verantwortung. Stabilisierung, Ausbildung und Wiederaufbau müssen dabei im Zentrum stehen. Aber die Verantwortung endet nicht mit dem Abzug der Truppen. Auch danach muss der zivile Aufbau weitergehen und intensiviert werden, damit die Menschen in Afghanistan nicht umsonst auf eine friedlichere Zukunft hoffen.

Heike Groos, 51, aus Lich, war insgesamt zwei Jahre als Bundeswehrärztin in Afghanistan

Der Auslandseinsatz der Bundeswehr in Afghanistan ist in jedem Fall gescheitert. In den letzten zehn Jahren hat sich dort nichts entscheidend verbessert. Mittlerweile gibt es in diesem Krieg mehr als 50 tote deutsche Soldaten – und dafür wurden vielleicht fünf Kinderhorte und drei Brunnen gebaut. Wir haben nichts erreicht, was die Opfer rechtfertigt. Ich schreibe noch vielen früheren Kameraden in Afghanistan E-Mails. Alle sagen: Es ist sinnlos hier, die Lage wird immer schlimmer. Die Afghanen sind ein so gebildetes Volk, mit langer Geschichte und Kultur. Wäre dort endlich Frieden, könnten sie sehr wohl ihr Land selbst in die Hand nehmen.

Mina Tander, 31, ist Schauspielerin und die Tochter eines afghanischen Journalisten

Was war zu gewinnen – für Deutschland und für Afghanistan? Mehr Sicherheit für Europa und Amerika? Die Befreiung der afghanischen Frau? Ein winziges bisschen mehr Wohlstand für das afghanische Volk? Demokratie? Die meisten Punkte dieser Liste sehe ich bis dato leider nicht erfüllt. Faktisch ist weder Afghanistan noch die westliche Welt sicherer geworden, die Menschen haben nicht mehr zu essen und es kommt durch ausländische Soldaten immer wieder zu zivilen afghanischen Opfern. Die wirkliche Basis einer Veränderung sehe ich daher vielmehr in Bildung und humanitärer Hilfe.

NEIN

Michael Steiner, 61, ist Sonderbeauftragter der Bundesregierung für Afghanistan

Afghanistan ist nicht verloren. Trotz aller Schwierigkeiten: Zehn Jahre internationales Engagement haben die Grundlagen eines souveränen Staats gelegt. Das Terrornetzwerk al-Qaida hat dort keine Heimat mehr. Das hatten wir uns 2001 vorgenommen. Wir haben gemeinsam viel erreicht und aus Fehlern gelernt. Natürlich liegt noch ein langer und schwieriger Weg vor uns. Bis Ende 2014 geht die Sicherheitsverantwortung vollständig auf die afghanische Regierung über. Unsere Truppen können daher schrittweise reduziert werden. Sie waren ein entscheidender Faktor – eine militärische Lösung gibt es dennoch nicht. Der Konflikt erfordert einen innerafghanischen Versöhnungsprozess, der von der Region mitgetragen wird. Dieser Prozess benötigt Zeit und Geduld. Die Ermordung des Expräsidenten Rabbani – unter dem Vorwand eines Friedensangebots! – hat diesen Prozess zurückgeworfen. Wenn aber alle Parteien bona fide das Ziel einer politischen Lösung anstreben, können wir weiter an einer Lösung arbeiten, die alle Afghanen einschließt – trotz aller Gegensätze. Präsident Karsai hat in New York klargemacht, dass seine Regierung weiterhin dazu bereit ist. Afghanistan wäre nur verloren, wenn wir es im Stich ließen. Auch nach dem Abzug von Isaf wird das Land Hilfe brauchen: für den zivilen Aufbau, für die Sicherheitskräfte und zur Aktivierung der Wirtschaft. Dafür wollen wir bei der Internationalen Afghanistankonferenz am 5. Dezember in Bonn die Staatengemeinschaft in die Pflicht nehmen.

Philipp Mißfelder, 32, ist Außenpolitischer Sprecher der CDU im Bundestag

In Afghanistan gibt es Licht und Schatten. Probleme gibt es beim Justizaufbau oder bei der Korruptionsbekämpfung. Dem stehen Fortschritte auf den Gebieten der Sicherheit oder der Menschenrechte gegenüber. Ein Beispiel sind Mädchen und Frauen, die unter dem Talibanregime brutal unterdrückt wurden. Heute gibt es in der afghanischen Verfassung verankerte Gleichberechtigung. Die Kindersterblichkeit wurde um 50 Prozent gesenkt. Den meisten Afghanen geht es heute besser als zuvor. Nach einer Umfrage lehnten 94 Prozent eine erneute Talibanherrschaft ab. Sie wollen, dass der Einsatz Sicherheit und Entwicklung bringt. Deshalb müssen wir ihn bis zur Übergabe erfolgreich zu Ende bringen.

Philipp Göbel, 23, ist Student der Medizin aus Krefeld und kommentierte auf taz.de

Von philosophischen Spitzfindigkeiten abgesehen, ob ein Krieg überhaupt zu „gewinnen“ ist und sich Menschenrechte und Demokratie durch militärische Mittel schaffen lassen, muss man eingestehen: Den Krieg hat die USA gewonnen. Sie hat Afghanistan unter ihre Kontrolle gebracht, Regierende eingesetzt und können nun über alle möglichen Ressourcen verfügen. Sie können entscheiden, ob sie Militärstützpunkte oder Ölpipelines errichten wollen. Es war niemals das Ziel, den Terror in Afghanistan selbst zu beenden.

Susanne Kastner, 64, SPD, ist Vorsitzende des Verteidigungsausschusses im Bundestag

Nein, der Krieg ist nicht verloren, denn ein Beginn der Demokratie ist dort durchaus erkennbar. Gerichtsbarkeit und Verwaltung sind sicherlich noch nicht so demokratisch etabliert, wie sie sein sollten – daran wird jedoch gearbeitet. Selbst Menschenrechte und die Rechte für Frauen haben sich gebessert. Wenn die Bundeswehr demnächst mit dem Abbau der kämpfenden Truppen beginnt, lassen wir die Menschen dort nicht alleine. Nach zehn Jahren Einsatz der Truppen muss aber darüber nachgedacht werden, wie die Verantwortlichkeiten in die Hände der Afghanen gelegt werden können. Der zivile Aufbau und die Ausbildung der Sicherheitskräfte wird weiterhin von Deutschland gefördert werden.