TIM CASPAR BOEHME LEUCHTEN DER MENSCHHEIT: Eifersüchtiges Wachen über die Ehre Gottes
Ist Religion Privatsache? Dass sich die Frage heute überhaupt noch stellt, dürfte in säkularisierten Gesellschaften für einiges Kopfschütteln sorgen. Doch selbst wenn man die Frage für sich bejaht, lässt sich nicht leugnen, dass Religion wieder in die Öffentlichkeit drängt, wobei die pervertierten Erscheinungsformen wie Fundamentalismus und Fanatismus einen großen Teil der Aufmerksamkeit für sich beanspruchen.
Fast schon aus einer anderen Welt scheint da William James’ religionspsychologischer Klassiker „Die Vielfalt religiöser Erfahrung. Eine Studie über die menschliche Natur“ (Verlag der Weltreligionen, 2014) zu stammen. Dass es bei religiösen Dingen um menschliche Bedürfnisse geht und diese von Person zu Person abweichen können, scheint religiöse Extremisten jedenfalls kaum zu interessieren.
Der „Abmilderungsdenker“ James, wie der Philosoph Peter Sloterdijk ihn im Vorwort nennt, hatte in seinem erstmals 1902 erschienenen Buch jedoch nicht nur die Vielfalt im Blick. James macht sich ebenso Gedanken über jene, die sich um diese Vielfalt wenig scheren. Heiligenverehrung etwa ist für James „ein rührender Ausdruck der fehlgeleiteten menschlichen Lobesneigung“.
Bei den Auswirkungen sieht es dann schon nicht mehr ganz so rührend aus: „Eine unmittelbare Folge dieser Geistesverfassung ist das eifersüchtige Wachen über die Ehre des Gottes. (…) Die leichteste Beleidigung und Mißachtung muß verübelt, die Gotteslästerer müssen zur Rechenschaft gezogen werden. Bei außerordentlich beschränkten Geistern und aktiven Willensmenschen kann eine solche Sorge zu einem übermächtigen Vorurteil werden; Kreuzzüge sind verkündet und Massaker angestiftet worden aus keinem anderen Grunde, als eine eingebildete Mißachtung des Gottes ungeschehen zu machen.“
„Wir haben den Propheten gerächt“, lautete der Ausruf der Charlie-Hebdo-Attentäter von Paris. Und James gibt keine Entwarnung, dass es sich um ein aussterbendes Phänomen handelt: „Der Fanatismus muß so lange auf der Sollseite der Religion vermerkt werden, wie der Verstand des religiösen Menschen sich auf einem Niveau bewegt, das durch einen despotischen Gott befriedigt wird.“ Dabei könnte die Sache so leicht sein: „Für das praktische Leben reicht es, die Chance zur Erlösung zu haben“, empfiehlt der Pragmatiker James. Bis aber eine bloße „Chance“ auf ewiges Leben oder 72 Jungfrauen im Paradies für Gläubige als Perspektive ausreicht, wird die Welt noch viele Morde im Namen Gottes zu beklagen haben.
■ Der Autor ist ständiger Mitarbeiter der Kulturredaktion
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