die taz vor 18 jahren über die krise der ddr und die wiedervereinigungrhetorik im westen
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Natürlich konnte in der Geschichte der DDR die SED-Führung ihren Immobilismus immer mit westlichen Äußerungen legitimieren. An diesem Punkt war sie bedenkenlos. Inzwischen sind Überlegungen, welche Äußerungen in der panikbeherrschten chronischen Abteilung des Weltkommunismus nun Besinnung stiften könnten, historisch überholt. So ist es müßig, sich den Kopf zu zerbrechen, wie opportun oder nicht-opportun die Wiedervereinungsfanfaren im jetzigen Augenblick hinsichtlich der SED-Führung seien. Sie praktiziert ohnehin nur das politische Überleben für den nächsten Tag und jedes Argument fürs Handgemenge wird ihr recht sein. Aber es ist bedrückend, daß nicht nur die Insassen der stalinistischen Geriatrie in Ost-Berlin sich nicht mehr in ihrer eigenen Abteilung zurechtfinden, sondern auch hierzulande alle Träume an deutschlandpolitischen Kaminen wieder hochgeholt werden. Politik mit dem Bauch, dem vollen und leeren!

Dabei sollte klar sein: Gerade angesichts der Massenflucht ist es der denkbar falscheste Augenblick, von Wiedervereinigung zu reden und zugleich Reformen von der DDR zu verlangen. Wiedervereinigung und Reform schließen sich aus. Die Forderung nach Reformen setzt, wenn sie ehrlich gemeint ist, auf einen sich öffnenden Widerspruch zwischen DDR-Gesellschaft und Regierungssystem. Sie impliziert die Unterstützung der Kräfte einer innenpolitischen Veränderung innerhalb der DDR. Das gemeinsame Credo aller Reformgruppen in der DDR heißt, daß die DDR ihre eigenen Existenzberechtigung hat. Die gegenwärtige Krise in der DDR als Chance für die Wiedervereinigung auslegen kann nur, wer die DDR nicht für reformierbar hält und mithin die Existenz von Reformgruppen für überflüssig. Insofern sollten die Wiedervereinigungsideologen sich beeilen, den Kontakt zu den Kirchen-, Menschenrechts- und Umweltgruppen schleunigst abzubrechen.

Klaus Hartung, taz 20. 9. 1989