Ein fataler Kreislauf

NORDKOREA Der prominenteste Flüchtling, Shin Dong-hyuk, hat die Welt belogen. Immer wieder werden Flüchtlinge von Organisationen für ihre politische Agenda missbraucht

Wer Geschichten von Dissidenten anzweifelt, gerät schnell zwischen die Fronten

AUS SEOUL FABIAN KRETSCHMER

Shin Dong-hyuk war das Aushängeschild aller nordkoreanischen Flüchtlinge: John Kerry ließ sich mit ihm ablichten, George Bush lud ihn nach Dallas ein, Christopher Nolan traf ihn zum Mittagessen. Alle haben sie ihn gefeiert, den bislang einzigen Überlebenden aus einem der berüchtigten nordkoreanischen Arbeitslager. Der 32-Jährige verlieh dem Kampf gegen die Unmenschlichkeit des Kim-Regimes sein Gesicht. Die grausamen Geschichten, die er zu erzählen hatte, waren seine eigenen. Doch nun ist klar: Sie waren über weite Strecken erlogen.

Wir haben uns nur allzu gerne belügen lassen, muss es fairerweise heißen. Mit seiner sanften Stimme und dem schüchternen Lächeln passte Shin geradezu perfekt ins Opferschema. Überhaupt das Lächeln: Wo er aufgewachsen ist, im Straflager Nummer 14, sei lautes Lachen von den Wärtern mit dem Tod geahndet worden. Wenn der Nordkoreaner solche Anekdoten erzählte, strahlte das Reporterherz. Er wurde von einem Interview zum nächsten herumgereicht, sprach auf Menschenrechtskonferenzen von Genf bis New York.

Doch Shin ist eine widersprüchlicher Figur, und das war er bereits vor der Beichte seiner Lügen. Als ihm seine Mutter und sein Bruder von ihren Fluchtplänen aus dem Lager erzählten, verriet er sie in der Hoffnung auf eine Extramahlzeit an die Wärter – und sorgte somit für ihr Todesurteil, dessen Vollstreckung er mitansehen musste.

„Es macht mich sauer, dass Shin gelogen hat, nur um mehr Aufmerksamkeit und Mitleid zu erheischen“, sagt Choi Yeong-ok. Die 47-jährige Nordkoreanerin floh 1998 aus ihrer Heimat und lebt jetzt in Südkorea. „Viele Leute auf der ganzen Welt könnten nun denken, dass alle Nordkoreaner Lügner sind“, fürchtet Choi.

Für viele Nordkorea-Experten kommt Shins Geständnis wenig überraschend. Auch Christopher Green, Redakteur beim Fachmedium Daily NK, hat entsprechende Gerüchte vernommen. „Auch wenn weite Teile von Shins Biografie unangetastet bleiben, sind sie nun vor Gericht nicht mehr verwertbar“, sagt Green.

Das ist ein herber Rückschlag im Kampf gegen die Menschenrechtsverletzungen in Nordkorea. Shin Dong-hyuk sagte immerhin als Kronzeuge vor einer Untersuchungskommission der UNO aus. Zudem verkaufte er Millionen Bücher seiner Memoiren „Flucht aus Lager 14“ in 27 Sprachen. Niemand prägte das Nordkorea-Bild so wie er.

Unter Nordkorea-Beobachtern ist es ein offenes Geheimnis, dass sich zwischen den wirtschaftlichen Bedürfnissen der Flüchtlinge, der politischen Agenda von NGOs und sensationslüsternen Redaktionen ein selbsterhaltender Abhängigkeitskreis gebildet hat. Leidensgeschichten werden gegen Aufmerksamkeit und Geld getauscht. Nicht viele Experten wollen sich zu diesem heiklen Thema äußern, zu groß ist die Angst, die Opfer eines brutalen Regimes ein zweites Mal zu Opfern zu machen.

Wer die Geschichten nordkoreanischer Dissidenten anzweifelt, gerät schnell zwischen die Fronten. Der Amerikaner Mike Bassett kennt das. Als er einmal öffentlich die Glaubwürdigkeit einer jungen Exilantin infrage stellte, erhielt er Morddrohungen von Anti-Nordkorea-Aktivisten und wurde von Nordkoreas Nachrichtenagentur KCNA als Held gefeiert.

„Einige Menschenrechtsgruppen präsentieren Flüchtlinge wie auf dem Jahrmarkt, um Publicity und Spendengelder zu bekommen“, sagt Bassett, der lange in Südkorea gelebt hat und die Propagandamechanismen beider Koreas ausgiebig studiert hat: „Shins Geschichte sollte nicht als vorsätzliche Schilderung betrachtet werden. Wer an einem schwerwiegenden Trauma leidet, hat oftmals Schwierigkeiten, die Geschehnisse wahrheitsgetreu nachzuerzählen.“

Dass Shin Dong-hyuk tatsächlich Opfer grausamer Menschenrechtsverletzungen wurde, daran sollte niemand zweifeln. Die Narben an seinem Körper lügen nicht, ebenso wenig die Brandwunden an seinem Rücken und die gebogenen Arme.