Niemand hatte damit gerechnet

UKRAINE Nach dem blutigen Angriff auf Mariupol beschuldigen sich alle Seiten. Die Angst vor weiterer Eskalation des Krieges wächst. Präsident Poroschenko: „Verbrechen gegen die Menschlichkeit“

Wir hier könnten uns durchaus einigen. Aber solange Russland den Krieg will, hilft der beste Wille zum Frieden wenig

IGOR SOLOMADIN, HISTORIKER UND BLOGGER AUS DEM OSTUKRAINISCHEN CHARKOW

AUS KIEW BERNHARD CLASEN

30 Menschen starben am Samstag in der ukrainischen Hafenstadt am Asowschen Meer, etwa 95 weitere wurden verletzt, als die Stadt Mariupol mit Grad-Raketen beschossen wurde.

Augenzeugen berichten über den Schrecken jener Angriffe: „Ich habe meiner Tochter, die auf dem Markt Fleisch verkauft, eine Thermosflasche gebracht“, zitieren ukrainische Medien einen Bewohner von Mariupol. „Zwei Minuten später begann der Beschuss.“ Nur durch ein Wunder hätten er und seine Tochter den Angriff überlebt. „Direkt vor dem Kiosk standen zwei Autos. Wenn die nicht dort gestanden hätten, wären wir nicht mehr am Leben. Ich habe es gesehen, die Raketen kamen direkt von der Ortschaft Nowoasowsk.“ Die Stadt wird von den Aufständischen kontrolliert.

Der Angriff auf das 500.000 Einwohner zählende Mariupol hat die Bevölkerung unvorbereitet getroffen: Niemand hatte mit einem derart heftigen Angriff auf zivile Ziele gerechnet. „Überall lagen auf dem Markt Tote“, berichtet Marina, eine Verkäuferin. „Ich habe eine Frau gesehen, die versucht hat, mit ihrem Körper ihr Kind zu schützen. Beide sind durch die Raketen umgekommen.“ In einer ersten Reaktion bezeichnete Präsident Petro Poroschenko den Angriff auf die Hafenstadt als „Verbrechen gegen die Menschlichkeit“. Nun gelte es, die Täter vor den Internationalen Gerichtshof in Den Haag zu stellen. Es sei an der Zeit, dass die Volksrepubliken Donezk und Luhansk als terroristische Organisationen geächtet werden.

Die OSZE kommt in einer Analyse zu der Auffassung, dass der Beschuss von Mariupol den Aufständischen zuzuschreiben sei. Zu einem ähnlichen Schluss kommt auch die Menschenrechtsorganisation Human Rights Watch.

Alexander Sachartschenko, Chef der Donezker Separatisten, hatte zuvor erklärt, die „Volksrepublik Donezk“ plane als Rache für den Überfall auf einen Oberleitungsbus in Donezk vor wenigen Tagen einen Angriff auf mehrere von Kiew kontrollierte Städte, darunter auch Mariupol. Wenig später ruderten die Aufständischen jedoch zurück. Man habe an den Orten, von denen Mariupol aus beschossen worden sein soll, gar keine Artillerie stationiert, berichtet der stellvertretende Sprecher des Parlaments der „Volksrepublik Donezk“, Denis Puschilin. In Kiew und anderen Städten der Ukraine mischt sich derweil Entsetzen mit Pessimismus: „Ich organisiere hier in Charkow Dialogforen mit Menschen der unterschiedlichsten politischen Ansichten“, erklärte Igor Solomadin, Historiker und Blogger aus dem ostukrainischen Charkow. „Doch diese Dialoge sind wenig effektiv. Wir hier könnten uns durchaus einigen. Aber solange Russland den Krieg will, hilft der beste Wille zum Frieden wenig.“ Der Präsident sei sehr auf die Forderungen der Separatisten eingegangen, sagt er. Doch nun werde der Krieg in seinem Land weiter eskalieren, befürchtet der ostukrainische Maidan-Aktivist.

Anfang dieser Woche soll das Parlament in einer Sondersitzung über weitere Maßnahmen beraten. Beobachter erwarten, dass sich die Parlamentarier entscheiden werden, die Volksrepubliken in Donezk und Lugansk als terroristische Organisationen zu bezeichnen. „Dies wäre ein großer Fehler“, meint Oles, ein Kiewer Student. „Denn mit terroristischen Organisationen darf unser Staat keine Verhandlungen führen. In der Folge wäre eine Ausweitung des Krieges unausweichlich.“

Unterdessen wird in der Ostukraine weiter unerbittlich gekämpft. Die Aufständischen gehen davon aus, dass sie bald einige Ortschaften erobern können, darunter auch das strategisch wichtige Debalzewo, einen Eisenbahnknotenpunkt. „Die letzten drei Tage haben wir hier ununterbrochen Artillerie gehört. In Jenakiewo wurde mein Freund erschossen, eine Frau hat bei einem Angriff der Armee einen Arm verloren“, berichtet ein Bewohner der Kleinstadt.

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