piwik no script img

Kein Ort für Kritik

LOKALES Als kleinste unabhängige Tageszeitung Deutschlands will das „Schifferstadter Tagblatt“ jeden der 2.000 Abonnenten zufrieden stellen. Ein Redaktionsbesuch

AUS SCHIFFERSTADT THOMAS FEIX

Vier Neuzugänge hat es letzten Monat gegeben, vier Abonnements, und nicht einen Abgang. Den gibt es, wenn ein Abonnent fortzieht oder im Sterbefall. Noch nie ist es vorgekommen, dass einer gekündigt hätte, weil er mit dem unzufrieden gewesen wäre, was ihm auf den Seiten des Schifferstadter Tagblatts entgegengetreten ist. Deutschlands kleinste unabhängige Tageszeitung achtet auf Neutralität. Nichts Enthüllendes, nichts Kritisches, keine Belehrung und keine Meinung. Bei zweitausend Abonnements ist es erstes Gebot, den Leser sein zu lassen, wie er ist. Jeden möchte die Zeitung zufrieden stellen.

Herr Claus ist fürs Layout zuständig, Herr Kuhlemann für den Anzeigensatz, Herr Lorch fährt in der Früh die Zeitungspakete aus, und Frau Geier sagt, dass der typische Leser des Tagblatts zwischen vierzig und sechzig und in Schifferstadt geboren und aufgewachsen ist. Dass er überdies gottesfürchtig ist und in einem oder in mehreren der achtzig städtischen Vereine, sich eher konservativ orientiert und die Fußballer von Kaiserslautern und Hoffenheim verehrt. Weiter kennzeichnet ihn, dass beinahe jeder zweite Abonnent auch noch Die Rheinpfalz bezieht, des Tagblatts große, übermächtige Konkurrenz.

Frau Geier hat Verlagskauffrau bei Bertelsmann in München, Hamburg und New York gelernt, sie leitet die Redaktion, das Anzeigengeschäft und den Vertrieb des Tagblatts, und das seit fünfzehn Jahren, seit der Vater ihr den Chefposten übertragen hat. Herr Geier ist weiterhin der Verleger, und manchmal ist er dabei zu beobachten, wie er die Büros und die Halle mit der Beilagensteckmaschine und der Maschine für die Geschäftsdrucksachen durchstreift.

Sein Großvater hatte die Zeitung 1905 als Anzeiger für Schifferstadt gegründet. Einmal die Woche erschien das Blatt, vier Seiten mit Geschäftsannoncen und Reklame, umrahmt von erbaulichen Traktaten, von Fortsetzungsgeschichten, die etwa „An der Martersäule“ hießen, von der Gottesdienstordnung der Pfarrei und vom örtlichen Boulevardnachrichtenüberblick. Fünf Jahre später war der Anzeiger auch das offizielle Amtsblatt der Stadt, und in der Weimarer Republik wurde aus ihm die Tageszeitung mit dem Namen, den sie noch heute hat.

1942 musste sie das Erscheinen einstellen, am 12. November 1949 war mit der ersten Nachkriegsnummer Wiedergeburt. Vor vier Jahren ist das Drucken des Tagblatts dann ausgelagert worden, aus Kostengründen, wie Frau Geier sagt. Zum Hundertsten 2005 war das Fernsehen da, Südwestrundfunk. „Eine Frau macht Druck“ hieß die Sendung, eine Huldigung ans Zeitungmachen und ans Kleinunternehmertum.

Radieschen- und Rettichanbau haben Schifferstadt in Deutschland bekannt gemacht, Hans-Jürgen Veil ebenfalls, Silbermedaillengewinner der Olympischen Spiele von 1972 im klassischen Ringkampf. Die Stadt liegt in der Rhein-Neckar-Region, einer Gegend mit viel Wohlstand und nur wenigen Arbeitslosen. Die meisten Leute in Schifferstadt reden gern über die Ära und über die Person von Helmut Kohl. Zwanzigtausend Einwohner, sechs Hotels, zwei Pensionen, die Schifferstadter sind vorwiegend bei BASF und SAP angestellt, und ab November wird die Stadt von der ersten grünen Bürgermeisterin in Rheinland-Pfalz regiert werden.

Durchschnittlich drei Exemplare des Tagblatts verkaufen acht Schifferstadter Geschäfte, Kioske und Tankstellen zusammen an einem Tag. Einen Euro kostet die Zeitung im freien Verkauf, neunzehnneunzig das Monatsabonnement. Die Anzeigenumsätze sinken, praktisch bei null sind sie inzwischen angelangt, während die Preise fürs Drucken dauernd steigen, und gibt es neue Abonnenten, sind das Glücksmomente. Das Netz ist es jedoch nicht, sagt Frau Geier, das ihr Anzeigen wegnimmt oder weggenommen hätte.

Die Geschäftsleute sparen, wo sie können. Werbung in einer Stadt, in der jeder jeden kennt – wozu? Schwindende Einnahmen beim Tagblatt gleicht die Geier-Druck-Verlag GmbH & Co. KG durch den so genannten Akzidenzdruck aus, Prospekte, Broschüren, amtliche Verlautbarungen, und seit über vierzig Jahren betreibt sie im Erdgeschoss des Verlages ein TUI-Reisebüro.

Den überregionalen Nachrichtenteil kauft Frau Geier vom Gießener Anzeiger. Für die bis zu sechs Seiten lokalen Nachrichten gibt es zwanzig freie Mitarbeiter, Hausfrauen, Rentner und Studenten. Darüber hinaus gibt es zehn feste Mitarbeiter, zu denen Herr Claus, Herr Kuhlemann und Herr Lorch gehören.

Die Themen für die Freien verteilt Frau Geier auf der Redaktionskonferenz. Um Sport geht es viel, um Fußball, Handball, Ringen, um Gewichtheben. Außer über Kaiserslautern und Hoffenheim wird über Adler Mannheim berichtet, über die Rhein-Neckar-Löwen und über die TSG Friesenheim. Über Feste und Feiern in Schifferstadt, über Eröffnungen und Einweihungen, über Wetter, Schule und Stadtpolitik. Auf sensible Berichterstattung dringt sie, worum immer es geht, sagt Frau Geier. Ihre Familie ist in der Stadt bekannt, und es wäre nicht gut, ergriffe das Tagblatt für oder gegen etwas Partei, Gerede und Anfeindungen wären die Folge.

Die Leser sind über die Neutralität entzückt. Beschwerden gibt es höchstens einmal in der Art, dass jemand kommt, Frau Geier die Zeitung hinhält und sagt, hier, da bin ich nicht richtig auf dem Foto. Der typische Leser des Schifferstadter Tagblatts fängt ohnehin hinten an, mit der letzten Seite, auf der die Todesanzeigen sind. Von hinten nach vorn, private Schicksale zuerst, dann Sport, zum Schluss die Weltpolitik.

Es ist ein Sechzehn-Stunden-Tag, den Frau Geier zu bewältigen hat, von Montag bis Samstag, von früh um halb drei bis um sechs oder sieben am Abend. Um halb vier morgens kommen die Exemplare des Schifferstadter Tagblatts aus der Rastatter Druckerei in der Halle an.

In der Beilagensteckmaschine sind sie mit den aktuellen Beilagen zu versehen, donnerstags stets mit dem Fernsehheft rtv, das der wahre Grund für manche der Abonnements ist und daher sehr wichtig. Anschließend zählen Frau Geier und ihre Kollegen die Zeitungen von Hand und verpacken sie für den Transport zu den Geschäften, Kiosken, Tankstellen und zu den dreizehn Austrägern. Pause ist von sieben bis neun, dann Redaktionskonferenz. Danach ist Frau Geier im Verlagsbüro am Schreibtisch und am Telefon.

Die Kredite bereiten ihr die größte Sorge neben vielen anderen alltäglichen Problemen. Ständig braucht sie frisches Geld fürs Drucken des Tagblatts, und deswegen hat sie ständig Termine bei der Bank, bei denen es gilt, Demut zu zeigen.

In der vierten Generation ist der Betrieb nun in Familienbesitz, jetzt von der Ururenkelin des Gründers dirigiert. Doch die Linie scheint gefährdet, eine fünfte Generation wird es wohl nicht geben. Vierzig ist Frau Geier jetzt, und es gibt keinen Mann, der ihr nahe genug wäre, um als Vater ihrer Kinder infrage zu kommen. Und sogar im Fall, dass sie doch noch einen Sohn oder eine Tochter haben sollte, wüsste sie nicht, ob sie ihnen raten würde, das Schifferstadter Tagblatt zu übernehmen.

Anderthalb Stunden lang dauert das Gespräch, dann ist alles gefragt und gesagt, was über das Tagblatt gefragt und gesagt werden kann. Nachmittäglich still ist es in den Räumen der Redaktion und in der Halle mit den beiden Maschinen, Feierabendstimmung, allein Herr Claus sitzt am Computer über dem Layout für die Ausgabe morgen. Herr Claus möchte nichts sagen, er hat kein Interesse daran, er sieht nicht einmal auf. Frau Geier überreicht Unterlagen zum Tagblatt, zur Geschichte, zu seiner Lage jetzt, sie hat einige Exemplare beigelegt und einen Stoffbeutel und Notizblöcke mit dem Aufdruck „Schifferstadter Tagblatt“.

Frau Geier ist überrascht darüber, dass die taz extra aus Berlin zu ihr in die Provinz kommt, nur um über eine so kleine Zeitung zu berichten, sie versteht den Aufwand nicht, misstraut dem Interesse. Sie findet, das Gespräch hätte ebenso gut am Telefon stattfinden können.

Zum Abschied hinten am Gartentor sagt sie, selbst wenn sie die Absicht hätte, mit der Zeitung in einen Nachbarort zu expandieren, die Auflage zu steigern und so den Gewinn, es ginge nicht. Die Konkurrenz würde es nicht dulden, einschreiten würde sie, Die Rheinpfalz, zweihundertfünfzigtausend Auflage täglich, mit der Medien Union GmbH im Hintergrund, einskommafünf Milliarden Umsatz jährlich, was für eine Macht.

www.schifferstadter-tagblatt.de

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen