Die Enkel von Stalin

EXTREMES RUSSLAND Die russische Gesellschaft ist in Bewegung. Sabine Adlers gesammelte Reportagen zeichnen ein Bild zwischen Alltag und Politik

VON KATHARINA GRANZIN

Sabine Adler ist Rundfunkjournalistin und Russlandkennerin. Seit ihrer Zeit als Journalistikstudentin hat sie das Land, das damals noch Sowjetunion hieß und später um etliche seiner Randbereiche verkleinert wurde, immer wieder bereist und jahrelang dort gewohnt. Sie kennt das Damals wie das Heute. Und beide unterscheiden sich nicht immer so sehr, wie man bei der Lektüre ihres Buchs „Russisches Roulette“ erfahren kann.

Adler hat darin die Arbeiten und Erlebnisse ihrer Russlandjahre gebündelt. Der Untertitel „Ein Land riskiert seine Zukunft“ und der Klappentext führen leider ein wenig in die Irre; denn was man erwartet, ist eine Bestandsaufnahme des „neuen“ Russland mit politischem Ausblick. Von ebendiesem Vorhaben aber, so die Autorin im Nachwort, habe ihre Lektorin sie abgebracht zugunsten einer umfassenderen Darstellung. Ob da nun die linke Hand nicht weiß, was die rechte tut – egal, lesenswert ist Adlers Buch in jedem Fall.

Die tiefe Vertrautheit mit dem Land und den Leuten, über das und die sie schreibt, ist in jedem Text spürbar. Und Adler war so ziemlich überall und hat eine ganze Menge mitgemacht. Für eine Reportage über Rentierzüchter hat sie Gebiete nördlich des Polarkreises bereist und ist bei minus dreißig Grad mit dem Motorschlitten unterwegs gewesen. Sie hat sich in die Bürgerkriegsgebiete des Kaukasus gewagt und vom Leben der einfachen Menschen berichtet, denen der Krieg das normale Leben unmöglich machte. Die Ruine der Schule in Beslan, in der nach wie vor weinende Angehörige der getöteten Geiseln von 2004 gedenken, hat sie besucht, und auch die Knochensucher von Wolgograd, die nach sterblichen Überresten toter Soldaten graben, um diese endlich beerdigen zu können.

Sie hat den Enkel Stalins, Jewgeni Dschugaschwili, interviewt, der ihr als ewig unverbesserlicher Stalinist entgegentritt, obwohl er seinen Großvater nie gekannt hat – und obwohl er Grund hätte, ihn zu hassen, da Stalin doch seinen Sohn, Dschugaschwilis Vater, im Krieg nicht aus deutscher Gefangenschaft auslöste, wenn er es auch gekonnt hätte.

Ein anderes Gespräch, das die Autorin spürbar beeindruckt hat, war das Interview, das sie im Jahr 2009 mit Michail Gorbatschow führen konnte. Sie macht in ihrem Text deutlich, wie sie an der Erkenntnis schlucken musste, dass auch der in Deutschland und dem Westen so verehrte „Gorbi“ ein Mensch mit Schwächen ist, ein mittlerweile alter Mann, der die Verbitterung über seinen verstorbenen, ehemals verbündeten Erzfeind Jelzin nie überwunden hat. Seine historischen Verdienste aber, so versichert Adler sich selbst und den Lesern, schmälere das keinesfalls.

Ja, warum auch?, will man da fragen. Ist es nicht etwas naiv anzunehmen, dass politischer Weitblick mit menschlichen Schwächen nicht vereinbar sei? Die Begegnung mit Gorbatschow ist plastisch geschildert, man bekommt einen lebendigen Eindruck von seiner Präsenz.

Und doch zeigt sich auch hier, woran es dem Band insgesamt fehlt. Sabine Adler hat die Reportagen, die sie im Laufe der Jahre erarbeitet hat, in eine gut lesbare Schriftform gebracht. Den Radioduktus hat sie dabei allerdings beibehalten. Sie schreibt kurze Sätze, mitunter sogar stichwortartig. Das ist nicht unangenehm, oft hat man das Gefühl, es spräche aus diesem Buch jemand zu uns. Und doch fehlt nach einer gewissen Zeit irgendetwas. Es ist nicht unbedingt der Verzicht auf stilistische Eleganz, der die Darstellung insgesamt eher karg erscheinen lässt. Und doch hängt möglicherweise auch die äußere Schmucklosigkeit dieser Berichterstatterprosa zusammen mit dem Fehlen von Zwischentönen, von reflektierender Betrachtung, die über die Oberflächen- und Momentbeschreibung hinausginge.

Dass die einzelnen Reportagen nur lose oder gar nicht zusammenhängen, würde nicht stören, wenn das große Ganze in eine Art Ausblick münden würde, wenn die Autorin nur einmal eine echte politische Analyse wagte. Schließlich bietet die Buchform die Möglichkeit, den Dingen endlich einmal tiefer auf den Grund zu gehen, als das journalistische Gebrauchsformat es hergibt. Sabine Adler lässt sie weitgehend ungenutzt. Das ist, im Prinzip: schade. Aber: trotzdem ein gutes Buch.

Sabine Adler: „Russisches Roulette. Ein Land riskiert seine Zukunft“. Aufbau Verlag, Berlin 2011, 360 Seiten, 19,99 Euro