Neue Herrscher in altem Gewand

NEOLIBERALISMUS Für den Theoretiker der Postdemokratie Colin Crouch greift der Konflikt Staat versus Markt zu kurz

VON ULI MÜLLER

Stellen Sie sich vor, der liebste Mensch an Ihrer Seite sagt, er trinke nicht, und greift dann doch jeden Tag zur Flasche. Der Fall ist klar. Er ist krank. Ähnlich indisponiert verhalten sich neoliberale Ökonomen. Sie sind gegen Staatseingriffe. Gleichzeitig fordern sie lautstark milliardenschwere Bankenrettungen aus der Staatskasse. Sie wollen, dass Konsumenten zwischen Waren und Diensten frei wählen können. Behaupten aber auch, es ginge allen besser, wenn Monopole das Angebot diktieren.

Das klingt nicht nur verwunderlich, sondern geradezu schizophren. Um diese merkwürdige Bewusstseinsspaltung kreist Colin Crouchs neues Buch. Der Autor umreißt die Entstehungs- und Ideengeschichte des Liberalismus vom 17. Jahrhundert bis zur aktuellen Finanzkrise. Dabei entlarvt er den Begriff Liberalismus als „so schlüpfrig, wie ein politischer Begriff nur sein kann“.

Folgenschwer sei seine inhaltliche Umkehrung in den 80er Jahren gewesen. Nach Jahrzehnten der Marginalisierung eroberten die neuen Wirtschaftsliberalen in atemberaubendem Tempo die Bühne, weil die keynesianische Wirtschaftspolitik auf die Ölkrisen der 70er Jahre, ausufernde Staatsschulden und Inflation angeblich keine befriedigenden Lösungen bot.

Entgegen der alten Tradition gestanden Wirtschaftsliberale wie der Chicagoer Ökonom Milton Friedman dem Staat Eingriffe in den Markt zu. Aber nur, um sein reibungsloses Funktionieren abzusichern. Besonders in den USA wurde diese Idee populär, wo man sie als neoliberal bezeichnete, weil die Allgemeinheit inzwischen unter Liberalismus eine linke Politik verstand.

„Heute existieren viele unterschiedliche Varianten und Nuancen des Neoliberalismus“, führt Crouch weiter aus, „doch besteht sein Wesen nach wie vor darin, den Markt grundsätzlich dem Staat als Mittel zur Lösung von Problemen … vorzuziehen.“

An die Stelle der liberalen Idee der Wahlfreiheit des Konsumenten trat die bevormundende Sorge um ihren Wohlstand. Die Neoliberalen behaupteten, von sinkenden Preisen würden alle profitieren. Und dafür würden transnationale Konzerne besser sorgen als viele Kleinbetriebe und Mittelständler. Mit diesem intellektuellen Streich hatten sie sich eleganterweise gleich auch noch die lästige Verteilungsfrage vom Hals geschafft.

Von der Öffentlichkeit wurde diese eigenartige Neudeutung kaum wahrgenommen. Die Diskussion konzentrierte sich auf den Konflikt zwischen Markt und Staat. Crouch indes richtet seine Aufmerksamkeit auf die „beunruhigende Rolle“, die transnationale Konzerne spielen.

Das sind Unternehmen, die ihre Geschäfte in mehreren Ländern machen und so groß sind, dass sie ihre eigenen Interessen gegen die Allgemeinheit durchsetzen können. „Entscheidend ist das politische Problem, das Marktgiganten darstellen, da die marktbeherrschende Stellung mit politischem Einfluss einhergehen kann und transnationale Unternehmen zuweilen in der Lage sind, Staaten gegeneinander auszuspielen.“

Crouch analysiert, wie es dazu kam, dass im Mittelpunkt staatlicher Eingriffe nicht länger die Förderung breiter Arbeitnehmerschichten stand, sondern die von Banken, Börsen und Finanzmärkten. Gekonnt verschränkt er seine Darstellung mit einer Forschung nach den Ursachen der aktuellen Finanzkrise.

Finanzielle Innovationen hätten den unvermeidlichen Zusammenbruch des neoliberalen Wirtschaftsmodells jahrzehntelang hinausgezögert: das Wachstum der Kreditmärkte für Menschen mit kleinen und mittleren Einkommen sowie die Entstehung von Märkten für Derivate und Terminkontrakte für Menschen mit großem Vermögen.

Damit war die Grundlage für eine Umkehrung der Schuldverhältnisse geschaffen: Um die Wirtschaft anzukurbeln, machte nicht länger vor allem der Staat Schulden. Vielmehr ging die Last auf Privatleute über, die häufig nur geringe Einkommen hatten. Der Autor nennt dieses Phänomen „Keynesianismus der privaten Hand“. Der führte dazu, dass die Interessen der Bürger den Finanzmärkten überlassen wurden. Diese produzieren – das wissen wir heute – ungeheure Einkommensunterschiede.

„Dieser … Wandel war grundlegender als alles, was durch reguläre Regierungswechsel von nominell sozialdemokratischen zu neoliberal-konservativen Parteien hätte bewirkt werden können. Er hat zu einem Rechtsruck im ganzen politischen Spektrum geführt.“

Dem ist nichts hinzuzufügen. Die Schlussfolgerungen allerdings, die Crouch zieht, sind dünn. Zwar setzt er berechtigte Hoffnungen in die erstarkende Zivilgesellschaft. Er kann sich auch vorstellen, dass Politiker ein Verbot von Universalbanken durchsetzen. Dann könnten Banker ihre riskanten Geschäfte nicht mehr mit dem Ersparten der kleinen Leute finanzieren.

Doch das ist zu wenig. Von jemandem, der so klar das Spiel hinter den Kulissen durchschaut und Machtverhältnisse unbestechlich ausleuchtet, erwartet man Vorschläge, wie der Einfluss von Banken und anderen Großkonzernen zurückgedrängt werden kann. Auch dann wäre Crouch noch weit davon entfernt, als Umstürzler oder gar als Revolutionär zu gelten.

Colin Crouch: „Das befremdliche Überleben des Neoliberalismus“. Aus dem Englischen von Frank Jakubzik. Suhrkamp Verlag, Berlin 2011, 249 S., 19,90 Euro