Der ästhetische Schrecken

UNABHÄNGIGKEIT Ein Plädoyer für rücksichtsloses Denken: die Textsammlung des langjährigen „Merkur“-Herausgebers Karl Heinz Bohrer

Karl-Heinz Bohrer, vergleichender Literaturwissenschaftler, geübter Provokateur und jahrzehntelang Herausgeber des Merkur, einer Zeitschrift für die gehobene Intelligenzija, hat unter dem Titel „Selbstdenker und Systemdenker“ erneut eine Aufsatzsammlung vorgelegt. Ein Teil der Arbeiten ist bereits im Merkur erschienen. Der Band behandelt ziemlich disparate Themen, folgt aber einer einheitlichen Thematik, deren Grundmelodie bereits im ersten Aufsatz des Bandes angeschlagen wird.

Bohrer wirft hier die Frage auf, was unter Unabhängigkeit des Denkens zu verstehen sei. Er antwortet, der unabhängige Denker muss Individualist sein. Er muss den Mut aufbringen, den vorherrschenden Denkmotiven in seiner Epoche zu widersprechen – und er muss diesen Widerspruch begründen können. Darin erweist sich sein innovatorisches Potenzial.

Die Gedanken des individualistischen Denkers entwickeln sich nicht innerhalb eines vorgestellten zeitlichen Kontinuums, sondern sprengen es auf. Sie sind Produkte dessen, was Bohrer den „Momentanismus“ nennt. Hauptzeugen dieses Denkens sind ihm Michel de Montaigne, Friedrich Schlegel und Friedrich Nietzsche. Freilich sind die Impulse unabhängigen Denkens aufgesaugt worden von einer Kulturkritik, die statt Unabhängigkeit und Innovation deren Pose setzt. Angesichts dieses Verschleißes bleibe nichts anderes übrig, als den innovativen Gedanken zu verbergen in einer neuen sprachlichen Ausdrucksform.

In seiner Auseinandersetzung mit Jürgen Habermas und dessen Schrift „Der philosophische Diskurs der Moderne“ ruft Bohrer erneut Schlegel und Nietzsche zur Hilfe, um jede geschichtsphilosophische Interpretation, die Annahme eines teleologischen Prinzips in der Geschichte in Frage zu stellen. Stattdessen gelte es, die Kategorien des plötzlichen Moments, der günstigen Katastrophe in Anschlag zu bringen. Die Tragödie soll von ihrer moralischen Bestimmung befreit, der Schrecken in seiner autonomen ästhetischen Bedeutung verstanden werden. Bohrer knüpft hier an seine Überlegungen zu einer Ästhetik des Bösen an. In seinem Aufsatz über die „Wohlgesinnten“ von Jonathan Littell preist Bohrer die dortige Aufhäufung von Monstrositäten als „poetische Imagination“. Dabei entwickelt er seine These nicht aus dem Material von Littells Buch, sondern stülpt sie ihm über.

Ähnlich axiomatisch verfährt Bohrer auch in seinem lesenswerten Aufsatz über den Western. Um seine These von der Zentralität des Duells mit tödlichem Ausgang für das Genre zu begründen, unterlässt er jeden Versuch, zwischen den verschiedenen Epochen der Western-Produktion, damit aber auch ihrem unterschiedlichen Inhalt und Stil zu unterscheiden. Sergio Leones „Spiel mir das Lied vom Tod“ dient ihm als Anschauungsmaterial, obwohl der Italo-Western mit der Thematik wie mit der Personenkonstellation des amerikanischen Western überhaupt nichts zu tun hat.

Sehr schön ist Bohrers Laudatio auf Kurt Flasch, die er anlässlich der Verleihung des Hannah-Arendt-Preises an den großen Philosophiehistoriker des Mittelalters hielt. Nicht der träge Fluss der Gedanken, nicht öde Dogmengeschichte kennzeichne Flaschs Geschichtsschreibung, sondern die Konstruktion von Kampfplätzen, wo nicht Heilige und Ketzer, sondern Intellektuelle aufeinandertreffen, um das Drama geistiger Auseinandersetzung aufzuführen. Wie entsteht neues Denken und wie muss es sich behaupten. Wenn nichts anderes, so ist es Bohrers Verdienst in seinem neuen Buch, den nonkonformistischen Denker Flasch einem hoffentlich nicht zu kleinem Publikum bekannt gemacht zu haben. CHRISTIAN SEMLER

Karl Heinz Bohrer: „Selbstdenker und Systemdenker. Über agonales Denken“. Carl Hanser Verlag, München 2011, 224 Seiten, 19,90 Euro