Abschied vom Helden

RECHERCHE Kolja Mensing unterzieht seine Familiengeschichte einer gründlichen Revision: „Die Legenden der Väter“

VON EVA BEHRENDT

Tatsächlich können Gespenster das Leben bestimmen. Menschen, die längst tot sind oder woanders leben, von denen wir uns unser eigenes Bild geschaffen haben, das nur wenig mit den realen Personen, dafür umso mehr mit uns selbst zu tun hat, prägen mitunter machtvoller als das direkte Umfeld. Auch durch das Leben des Schriftstellers und Journalisten (u. a. für die taz) Kolja Mensing, Jahrgang 1971, ist ein solches Gespenst gegangen: der desertierte Wehrmachtssoldat Jozef Kozlik, der 1945 mit der polnischen Exilarmee das Emsland besetzte, der deutschen Tischlertochter Marianne begegnete und mit ihr den Vater des Autors zeugte.

„Die Legenden der Väter“ setzt 1949 ein mit der Schilderung von Jozefs nächtlicher Rückreise im Zug nach Polen, während Frau und Kind im norddeutschen Fürstenau zurückbleiben. Diese Schilderung ist der Auftakt zu einer Rekonstruktions- und Recherchearbeit, die Kolja Mensing, wie er später im Buch verrät, über ein Jahrzehnt lang begleitet und teilweise wohl auch beherrscht hat, die ihn in Polnischkurse, Archive und entlegene Ortschaften trieb: Wer war der Mann, der in den Gutenachtgeschichten, die ihm sein Vater als Kind erzählte, die Heldenrolle spielte?

Mit der Erzählung der eigenen Familiengeschichte, die im Zweiten Weltkrieg ihre markanteste Erschütterung erfährt, reiht Mensing sich ein in einen Literaturzweig, der in diesem Herbst eine besondere Blüte erlebt. Doch während etwa Josef Bierbichler und Oskar Roehler ihre Herkunftsgeschichten über drei Generationen als Fiktion getarnt und sich dadurch unterschiedlich große künstlerische Spielräume geschaffen haben, folgt Kolja Mensing einem vergleichsweise spröden dokumentarischen Ansatz. Das Großvaterbild vom Anfang des Buches wird in seinem Verlauf einer gründlichen Revision unterzogen, bei sich der Autor – ein eher leises und diskretes Ich – gelegentlich in die Karten schauen lässt.

Trotzdem, es dauert eine ganze Weile – vielleicht zu lange –, bis der Leser die Dimension von Mensings Unterfangen erfasst. Die erste Hälfte des Buches ist über weite Strecken redliches Nacherzählen zweier weniger populärer Seitenstraßen der Zweiten-Weltkriegs-Geschichte, nämlich der wechselhaften Identität der Bevölkerung Oberschlesiens, jener Region, aus der Jozef und seine Familie stammen – und der polnischen Exilarmee, die bei der Schlacht um Monte Cassino eine ruhmreiche Rolle spielt und später im Gefolge der Briten Westdeutschland mitbesetzt.

Wirklich interessant wird es, wenn Kolja Mensing sich selbst als Suchender einklinkt und seine Motive zumindest andeutet: Er wollte „vom Zuhörer zum Erzähler werden“. Nach und nach findet er heraus, dass der Großvater kein strahlender Kriegsheld auf der Seite der Befreier war, sondern ein schlitzohriger Durchwurschtler, von den Winden des Schicksals mal auf die eine, mal auf die andere Seite der Geschichte geweht und am Ende doch kaum begünstigt: Nach seiner Rückkehr nach Polen kommt Jozef Kozlik auf keinen grünen Zweig mehr.

Er sitzt mehrfach im Knast, trinkt und wohnt bei seiner Mutter. Als er an Krebs stirbt, ist er noch keine sechzig Jahre alt.

Für seinen Sohn aber spielt der abwesende Jozef lange Zeit eine ganz andere Rolle: Mensings Vater, der unter seiner gewalttätigen, alleinerziehenden Mutter leidet und als „Polenkind“ ohnehin schief angesehen wird, braucht ihn als Trost- und Sehnsuchtsfigur. Auch wenn er später, mit Anfang 30, bei seinem ersten und einzigen Besuch in Polen dieses Bild eigentlich korrigieren müsste, bleibt Jozef in den Erzählungen ein Verklärter. Kolja Mensing muss das Schiefe im Bild, die Leerstelle und den verdeckten Schmerz seines Vaters gespürt haben.

Es macht die Qualität der zweiten Buchhälfte aus, dass Mensing die psychologische Motivation seines Schreibens gerade nicht auserzählt. Mit nur wenigen Sätzen skizziert er den tragischen Hallraum, in dem das Dreieck Großvater/Vater/Enkel steht. Die Aufmerksamkeit liegt vielmehr auf dem Großvater und seiner traurigen Gestalt, dessen wahres Leben der Sohn mit detektivischer Akribie für den Vater ausfindig gemacht hat. Eine Gespensterjagd, die man als Akt der Liebe oder der Aggression deuten kann – in jedem Fall ein Projekt der Emanzipation und des Erwachsenwerdens, auf das einzulassen sich schließlich unbedingt lohnt.

Kolja Mensing: „Die Legenden der Väter“. Aufbau, Berlin 2011, 234 Seiten, 18,99 Euro