Alles ist immer schon passiert

Die neue Ausstellung in der Friedrich Christian Flick Collection im Hamburger Bahnhof zeigt die Zeitskulpturen des Schweizer Künstlers Roman Signer. Obwohl immer etwas fällt, explodiert oder sich entleert, ist das eigentliche Ereignis stets abwesend

VON BRIGITTE WERNEBURG

Roman Signer ist ein Fachmann für komplizierte Gedankengänge und für Apparate, die ganz einfach sind. In der Folge besteht sein Leben aus viel Arbeit, von der wenig übrig bleibt. Es handle sich um eine Kunst des Verschwindens, sagt der 1938 in Appenzell geborene Schweizer Künstler in „Signers Koffer – Unterwegs mit Roman Signer“, einer filmischen Reise, die er 1996 mit dem Regisseur Peter Liechti unternahm: um „ein räumliches Geschehen, bei dem es nachher nichts zu verkaufen gibt“. Letzteres allerdings war glatt gelogen. Anders ist nicht zu erklären, dass der Hamburger Bahnhof morgen die Ausstellung „Roman Signer“ eröffnen kann, die Werke aus der Friedrich Christian Flick Collection zeigt.

Dass Signer die Artefakte, Apparaturen und Objekte Flick geschenkt hat, die sich in der riesigen Halle 2 ein wenig verlieren, wollen wir nicht hoffen. Trotz dieses Minimalismus ist eine dichte und spannende Werkschau zu erleben, deren zentraler Ort der Keller ist. Es fasziniere ihn, sagte Signer einmal, wenn das Resultat eines Revolverschusses nicht Mord, sondern Poesie sei. Im Keller der Rieckhallen, in dem die Projektionen von zwölf seiner kurzen Künstlerfilme zu bewundern sind, erhellt sich die Aussage umstandslos. Zwar schießt der Meister im Kurzfilm „Schuss“ mit seinem Revolver immer daneben. Das heißt aber keinesfalls, dass er nicht doch ins Schwarze träfe. Denn einfach einen Revolver nehmen und auf die unumgängliche Blechdose – wir kennen sie aus Hollywoodfilmen, besonders schön im Remake von „The Getaway“ – zu zielen, ist nicht sein Ding. Es muss schon komplizierter sein. Also legt er sich einen dieser Vibrationsgürtel um die Hüften, an die man sich aus Anzeigen erinnert, die versprachen, dass der Gürtel in überflüssige Pfunde zum Verschwinden bringe. Das durfte man freilich bezweifeln. Wahr ist aber, dass er einem in kürzester Zeit den letzten Nerv raubt – so muss man zusehen, wie sich der armer Signer mit seiner Schusswaffe abmüht.

Lachhaft und wunderbar ist auch „Vulkan“, eine Aktion, die dieses Jahr in Wörlitz stattfand. Ende des 18. Jahrhunderts hatte sich dort Leopold Friedrich Franz von Anhalt-Dessau in seinem Park den Kegel des Vesuvs nachbauen lassen und seine Partygäste mit dessen „schreckbarer Explosion“ erfreut. Weil auch Roman Signer die schreckbare Explosion über alles liebt – sie ist geradezu sein Markenzeichen – lässt er dem Schlot des Dessauer Vesuvs mit Mordsgetöse einen roten Gymnastikball, Feuer und Lava in einem, entsteigen. Tatsächlich ist Schwarzpulver, vor allem in Form der Zündschnur das grundlegende Medium seiner Kunst. Denn die brennende Schnur, die sich langsam ihrem Ziel entgegenfrisst, um in einem Bruchteil von Sekunden ihre plastische Energie freizusetzen, ist in Signers erweiterten Skulpturbegriff Urform dessen, was er „Zeitskulptur“ nennt.

Seit den frühen Siebzigern arbeitet er dabei mit einem elementaren Material- und Gegenstandsrepertoire wie Erde, Feuer, Wasser und Luft, mit Kisten, Fässern und Hockern, die durch ein plötzliches Ereignis oder auch einen langsamen Prozess transformiert werden. Etwas fällt, explodiert, entleert sich. Da die künstlerischen Aktionen schon vor der Ausstellung stattgefunden haben, benennen die ausgestellten Objekte, die fotografischen Dokumentationen und Videoaufzeichnungen, die Zeitskulptur als ein wesentlich abwesendes Ereignis. Weswegen der Gang in den Keller so unumgänglich wie erhellend ist. Denn in den Filmen spürt man die Fallhöhe zwischen grandioser, ungerührter Landschaft und den Guerilla-Aktionen Signers, die sorgsam geplant sind und doch mit einem guten Schuss Schicksal kalkulieren, die auf die Natur keinen Einfluss und selbst keinen Bestand haben. In ihrem Witz, der schnell verpufft und lange nachzündet.

Bis 27. Januar, Hamburger Bahnhof, Katalog (Dumont Verlag, Köln) 20 €