: Eine Irrfahrt durch den Alltag
LITERATUR Jochen Distelmeyer, Ex-Blumfeld-Sänger, hat einen viel erwarteten Roman geschrieben: „Otis“ heißt sein literarisches Debüt, das gleich von Odysseus in der Gegenwart handelt
■ Lesungen: So etwas muss man als Buchautor erst einmal hinkriegen. Am 3. 2. feiert Jochen Distelmeyers Roman „Otis“ Buchpremiere im Berliner Babylon-Kino – mit einer Reprise am 8. 2. im Hamburger Club Uebel & Gefährlich. Und dann sind allein bis zum 1. 4. noch knapp 20 weitere Lesungstermine angesetzt, von Bremen bis Wien, Leipzig bis Zürich, Frankfurt bis Dornbirn in Vorarlberg. Ein Tourneeplan, wie man ihn eher von Popbands – wie zum Beispiel Distelmeyers Exband Blumfeld – gewohnt ist. Man darf gespannt sein, wie das bei dem Debütautor Distelmeyer funktioniert.
■ Termine: unter www.rowohlt.de
VON ELISE GRATON
Heute noch eine literarische Adaption von Homers „Odyssee“ zu verfassen, dem Urtext der europäischen Literatur, zumal nachdem James Joyce mit seinem 1922 erschienenen „Ulysses“ bereits den Olymp der Weltliteratur erklomm, geht das? Natürlich. Dennoch kann man nicht umhin, das Projekt als gewagt, wenn nicht gar als aussichtslos zu bezeichnen.
Jochen Distelmeyer, Exsänger und Kopf der deutschen Popband Blumfeld, sah für sich einfach keine andere Möglichkeit: „Ich hatte schon ein paar Songs, die sich mit der Odyssee beschäftigen, und wollte das in mein nächstes Soloalbum einfließen lassen“, erzählt er im Gespräch. „Aber meine Auseinandersetzung mit dem Text wurde immer intensiver, fruchtbarer und für mich sehr spannend.“ Zu viel für ein Popalbum. Die Einsicht versetzte ihn für kurze Zeit in einen Zustand der Ratlosigkeit. „Dann – so mache ich das manchmal – habe ich beim Spazierengehen vor mich hin geredet und meine Gedanken in Sprache gefasst. Plötzlich war es eine Art Prosaflow“, so der Songlyriker. „Gleichzeitig hat mir Berlin sehr gut gefallen, aber ich wollte keinen Berlinsong schreiben.“
„Otis“ heißt sein Debütroman. Die Hauptfigur Tristan Funke flaniert durch Berlin. Wegen Liebeskummer ist er aus Hamburg in die Hauptstadt gezogen. Wir schreiben das Jahr 2012, gerade hat Bundespräsident Christian Wulff sein Amt abgegeben. Tristan ist auf dem Weg zum Lunch mit seinem reichen Onkel, der ihm Geld für sein Buchprojekt geliehen hat. Nichts Geringeres als eine in der Gegenwart verankerte Version der Odyssee soll der zu schreibende Roman werden. Dessen Protagonist, Otis Weber, ist ein illegaler Filesharing-Programmierer. Der feindbildtaugliche Frankfurter Anwalt unterstützt nun zwar gern seinen vierzigjährigen Neffen – nimmt aber den „Projektschwafler“ nicht wirklich ernst und kann mit dessen Gegrübel und Gedudel nicht viel anfangen. Auch dem Leser fällt es schwer, sich für Tristans Vorhaben zu begeistern.
Jochen Distelmeyer weiß nicht mehr genau, was ihn zu seiner Auseinandersetzung mit der Odyssee geführt hat. „Das muss wohl im Anschluss an die letzte Platte gewesen sein, auf der es Stücke gab wie ,Wohin mit dem Hass‘ oder ,Hiob‘, die also schon dieses Trauma, das in Serie geht, besangen und die drohende Kriegsgefahr vor dem Hintergrund ungeklärter Affektlagen aufscheinen ließen. Parallel musste ich mich in Berlin neu orientieren, schauen, wer bin ich hier, wie fühlt es sich an. Und dabei machte ich außergewöhnliche Begegnungen, die mir schicksalsträchtig vorkamen“, erinnert er sich. „Das war eine Odyssee, die mich beschäftigte und umtrieb, und die habe ich in tagesaktuellen Debatten und Geschehnissen wiedererkannt.“
Essayistische Sprache
Nachdem sich Tristan von seinem Onkel verabschiedet hat, begibt er sich zu seinem besten Freund, Ole Seelmann. Auf dem Weg erinnert er sich an Gespräche mit Ole über das Rostock-Lichtenhagener Pogrom 1992, die Kunst nach dem 11. September, die Piratenpartei, das Holocaust-Denkmal am Brandenburger Tor und die Bankenkrise. Die Passagen sind langatmig, in essayistischer Sprache verfasst, sie stammen aus dem inneren Monolog einer noch unscharf umrissenen Figur, sodass man sich kaum auf die erläuterten Thesen einzulassen vermag, sie nicht anders als dozierend empfinden kann. Stattdessen hegt man ernste Zweifel, ob Distelmeyer das Genre nicht verfehlt und es mit der Literatur hätte lieber lassen sollen.
Die Quälerei, falls man sie so nennen mag, endet aber prompt auf Seite 94: Tristan trifft auf einen Verleger – in dem man den Suhrkamp-Gesellschafter Hans Barlach erkennt, „oder glaubt zu erkennen“, präzisiert Distelmeyer. Der semifiktive Verleger jedenfalls, auch so ein etabliert einschüchternder Onkeltyp, weist Tristan unverblümt ab: „Die Odyssee“ zu adaptieren, welch eine langweilige Idee! Nicht wegen Joyce, sondern wegen Homer, „der das wohl erschöpfend behandelt hat“. Mit seiner Theorie zu guten Büchern – „Analsex! So was wollen die Leute lesen!“ – muss man sich zwar nicht anfreunden, aber man ist ihm dankbar, dass er Tristan den längst überfälligen Tritt verpasst.
Ab nun wird man für die Ausdauer belohnt, der Roman kommt in Fahrt, die Odyssee nimmt ihren Lauf. Distelmeyer stimmt zu: „In der Odyssee ist es so, dass Odysseus’ Geschichte zunächst nur in der Begegnung mit seinem Sohn Telemachos durch Dritte erzählt wird. Odysseus selbst tritt erst später als Erzähler in Erscheinung: Als er Alkinoos trifft, den König der Phaiaken, deren Schiffe, wie es heißt, schneller sind als die Gedanken der Menschen. Buchstaben, Algorithmen, die ihn nach Hause bringen können. Erst ab dem Moment fängt sein eigener Bericht an.“
Tristans nachfolgende Gedankenspielereien über Mythos, Leben und Berlin verweben sich nach der Abfuhr zunehmend mit der Handlung. Es passiert zwar nicht viel: Tristan trifft sich mit einer Freundin, geht in den Zoo, nimmt eine neue Baustelle auf seiner Straße zur Kenntnis. Ohne Taschenlampe auf dem Abstieg in den Keller, betrunken auf der Suche nach einer Tür, im Schnee stapfend, machen sich für den Erzähler aber neue Dimensionen und verwinkelte Ecken auf, die man als Leserin gerne betritt, entziffert oder einfach auf sich wirken lässt.
Überraschend kunstfertig probiert sich Distelmeyer an Erzählweisen, historischen Exkursen, Dialogszenen, einem achtseitigen Ionesco-haften Theatertext, gespickt mit allerlei Zitaten, Humoresken, bis hin zu einem Auszug aus Tristans Buch: affektiert verknappte Sätze, die kein großes Meisterwerk vermuten lassen. Komischer Kauz, dieser Tristan. Den Namen seiner eigenen Hauptfigur, Otis, leitet er aus dem Griechischen „Outis“ ab – das Pseudonym, das Odysseus annimmt, um den Zyklopen zu entkommen: „Mein Name ist Niemand.“ „Old Nobody“, so hieß doch auch Blumfelds drittes Album. „Alle meine Platten sind mit dem Roman verknüpft“, sagt Distelmeyer im taz-Gespräch, und macht sich daran, die Bedeutung des Buchstaben „o“ in seinem Gesamtwerk anhand einer eigensinnigen Assoziationskette zu erläutern.
JOCHEN DISTELMEYER
Im Liebesschmerz
Auch wohin genau Tristans Irrfahrt durch seinen unaufgeregten Berliner Alltag führt, bleibt ungewiss. Als Showdown dient die gleich zu Anfang angekündigte Abschiedsparty seines Freundes Ole, auf der auch die Frau, wegen der Tristan im Liebesschmerz Hamburg verließ, eingeladen ist. Dort flüchtet sich Tristan an die Bar und trifft auf chronisch schlecht gelaunte Journalisten, gewöhnungsbedürftige Experimentallyriker und liebeshungrige Schwärmer in angetrunkener Debatte.
Politik, Wortakrobatik, Romantik, das sind auch schon immer die Hauptzutaten von Jochen Distelmeyers Songs gewesen. Lässt sich aus dem Figurenpuzzle der Versuch herauslesen, die Fragmente der eigenen Persönlichkeit zusammensetzen zu wollen?
Distelmeyer wiegelt die These der Nabelschau ab: „Homer ist letztlich auch ein Filesharing-Programmierer und früher Urheberrechtsverletzer: Er hat quasi Mythen geklaut und zusammengestrickt.“ Ist das schlimm? Nein. Es komme nur darauf an, wie es gemacht ist.
■ Jochen Distelmeyer: „Otis“. Rowohlt, Reinbek 2015, 288 Seiten, 19,95 Euro
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen