STADTGESPRÄCH AUS ISTANBUL
: 100 Jahre Nebelkerzen

TRICKREICH SABOTIERT PRÄSIDENT ERDOGAN DAS GEDENKEN AN DEN VÖLKERMORD AN DEN ARMENIERN

Geh zur Hölle, oder wir werden dich persönlich dorthin bringen.“ Mit solch freundlichen Mahnungen an den deutschtürkischen Filmemacher Fatih Akin begann 2015 eine Debatte, die jedes Jahr aufs Neue die türkische Öffentlichkeit beschäftigt: die Diskussion um den Völkermord an den Armeniern im Ersten Weltkrieg, der von nahezu aller Welt anerkannt wird, nur nicht von der Türkei. Weil der Film Fatih Akins darüber im Januar in die türkischen Kinos kam, kam die armenische Frage in diesem Jahr noch früher auf den Tisch.

2015 jährt sich der Völkermord zum 100. Mal. Viele Armenier hoffen, dass sich die türkische Regierung nach einem Jahrhundert endlich für die Vertreibung und Vernichtung der Armenier im Osmanischen Reich entschuldigt.

In diversen Talkshows wird bereits heftig darüber debattiert. Kolumnisten resümieren den Stand der Dinge und spekulieren, ob die Regierung des Präsidenten Tayyip Erdogan noch eine Überraschung bereithält.

Den ersten Schachzug hat Erdogan bereits gemacht: Just für den 24. April, den Gedenktag des Völkermordes, hat er über 100 Staatschefs aus aller Welt eingeladen, um im Gedenken an die „Schlacht von Gallipoli“ einen „Friedensgipfel“ auf dem ehemaligen Schlachtfeld abzuhalten. Am 25. April 1915 waren auf der Halbinsel Gallipoli, die die Dardanellen nach Norden begrenzt, britische und französische Truppen gelandet, um die Abwehrstellungen von Türken und Deutschen anzugreifen, die bis dahin einen Durchbruch alliierter Schlachtschiffe nach Istanbul verhindert hatten. Während die Türkei bislang immer am 18. März eine Siegesfeier veranstaltet hatte, weil da mehrere alliierte Schlachtschiffe versenkt worden waren, verschob Erdogan für dieses Jahr aus durchsichtigen Gründen den Friedensgipfel auf den 23./24. April. Eingeladen ist auch der armenische Präsident Serge Sarkisian.

Im Netz war die Empörung groß. Armeniens Präsident Sarkisian sprach von der „perfekten Verdrehung der Geschichte“. Der türkische Ministerpräsident Ahmet Davutoglu rechtfertigte die Veranstaltung daraufhin mit dem Hinweis, in den Reihen der osmanischen Armee hätten doch auch Armenier gekämpft, insofern würde man mit der Veranstaltung doch auch die armenischen Opfer ehren.

Das war denn doch der Dreistigkeit zu viel. Tatsächlich wurden ethnische Armenier und Griechen nahezu von Beginn des Ersten Weltkrieges an als potenzielle Verräter behandelt und aus der Armee aussortiert. Die meisten armenischstämmigen Soldaten mussten unbewaffnet im Straßenbau schuften und wurden im Verlauf des Jahres 1915/16 von türkischen Spezialtruppen ermordet.

In Einzelfällen blieben aber auch Armenier in der regulären Armee. Davutoglu griff einen solchen Fall eines armenischen Hauptmannes auf und setzte sich damit vollends in die Nesseln. In seiner Absage für eine Teilnahme an den Feierlichkeiten schrieb Serge Sarkisian an Davutoglu: „Der armenische Hauptmann, den Sie erwähnen, verteidigte das Osmanische Empire und wurde für seine Loyalität ausgezeichnet. Gleichzeitig führte das Empire Massenmorde gegen die armenische Bevölkerung durch und deportierte sie zwangsweise in die syrische Wüste. Die Eltern des Hauptmanns gehörten zu den Opfern dieses Genozids, seine Schwester ging in der syrischen Wüste zugrunde.“

Während der britische Kronprinz Charles und die Staatschefs von Australien und Neuseeland nach Gallipoli kommen wollen, kündigte der französische Präsident Hollande an, er werde am 24. April zum Völkermordgedenken nach Jerewan fahren. Die Türkei forderte Hollande auf, endlich mit ihren Tabus zu brechen.

Nachdem Erdogan diese Einmischung empört zurückgewiesen hatte, machte er am Freitag einen neuen taktischen Zug. In einem Interview mit dem türkischen Staatsfernsehen sagte er: Wenn eine von uns anerkannte internationale Expertenkommission feststellt, dass es „wirklich ein Verbrechen gab und ein Preis von uns zu zahlen ist, dann werden wir uns das ansehen und die entsprechenden Schritte tun“. Das Werfen von Nebelkerzen geht weiter.

JÜRGEN GOTTSCHLICH AUS ISTANBUL