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: Bobby Fischer isst Krapfen in Island – dieses Buch erzählt die Vorgeschichte

Auf dem Flughafen Narita ließ er sich noch zu einer letzten Unflätigkeit hinreißen, berichtete der Tagesspiegel am 26. März 2005. Bobby Fischer öffnete den Hosenschlitz und simulierte das Urinieren auf japanischen Boden. Überhaupt nicht wahr, wehrt Benedikt Höskuldsson von der isländischen Botschaft in Tokio auf meine Anfrage ab. Fischer habe lediglich den Gürtel, der ihm in der japanischen Abschiebehaft abgenommen wurde, nach der Ankunft am Flughafen Narita wieder an seiner Hose befestigt, dabei kurz den Gürtel gelockert, um das Hemd hineinzustopfen. Er selbst sei Augenzeuge gewesen. „Ich muss sagen, dass Herr Fischer ein sehr ehrwürdiger Mann ist, der niemals so etwas täte, wie öffentlich zu urinieren“, schreibt mir der Botschaftsrat, der den Abschiebehäftling persönlich zum Flughafen begleitete. Von dort flog der Schachweltmeister in seine neue Heimat, nach Keflavík.

Die Wahrheit hat offensichtlich viele Gesichter. Und David Edmonds und John Eidinow glauben, dass genügend Zeit vergangen sei, um das „größte Schachmatch aller Zeiten“, nämlich das zwischen dem US-Amerikaner Fischer und dem Russen Spassky in Reykjavík, noch einmal Revue passieren zu lassen, objektiver. In der Zeit des Kalten Krieges, im Jahr 1972, wurde es zum Kampf der Systeme stilisiert. Für die Sowjetunion war Schach das Instrument nationaler Identitätsfindung. Der Kommunismus zeigte sich hier dem Kapitalismus überlegen. Doch mit Bobby Fischer siegten erstmals die USA.

Heute könne die Geschichte nuancierter, facettenreicher erzählt werden, glauben die Autoren. Und natürlich ist die bizarre Gestalt des Schachgenies Fischer immer eine Erzählung wert. Als absolute Nervensäge erreichte Fischer nach tausend Verspätungen den Austragungsort Island, trieb mit ständig neuen Forderungen Hotel und Veranstalter zur Verzweiflung. Völlig humorfrei lebte er seine Launen aus und beleidigte die freundlichen Isländer, die dort zum ersten Mal im Mittelpunkt des Weltinteresses standen. Trotzdem, ausgerechnet dort habe er schließlich den „einzigen Freund seines Lebens“ gefunden – einen sanften Polizisten, der dafür bekannt war, Schlägereien zu beenden, indem er die Kontrahenten zum Tanzen motivierte: „Saemi-Rock“, ein lokaler Kultstar seitdem. Während Spassky sich 1976 in Frankreich niederließ, bezeichnete Fischer den Präsidenten George W. Bush als Kriegsverbrecher, wünschte ihn an den Galgen und verbreitete bizarre antisemitische Verschwörungstheorien. Der Verstoß gegen das Jugoslawienembargo 1992 brachte Fischer 2002 in japanische Abschiebehaft – sein US-amerikanischer Pass war nicht verlängert worden. Um einer möglichen Gefängnisstrafe zu entgehen, stellte er Antrag auf Asyl und bat um Erteilung der isländischen Staatsbürgerschaft. Von diplomatischen Verwicklungen ist indes nicht viel bekannt. Die US-Regierung protestierte pflichtgemäß, nachdem das isländische Parlament mit großer Mehrheit Fischers Einbürgerung beschlossen hatte. Im Gegenzug kann sich das armeelose Nato-Mitglied Island, das neben Tuvalu und weiteren 47 Staaten zu George Bushs Koalition der Willigen zählte, vom Image zu großer Hörigkeit wieder etwas befreien. Zudem müssen die USA ihren einstigen Helden nicht zum Märtyrer in einem amerikanischen Gefängnis machen.

Leider fehlt die Geschichte vom neuen isländischen Staatsbürger Bobby Fischer; die aktuelle Ausgabe endet bei der Heirat mit seiner japanischen Frau. Das locker vom Hocker zu lesende Buch enthält eine Melange aus Recherchematerial, Tratsch, amüsantem Blabla und Hintergrundinformation. Manchmal kann man Bobby Fischer heute mit zerzaustem Haar und Bart vor der dänischen Bäckerei im Zentrum Reykjavíks sehen. Einsam und verloren knabbert er an einem gezuckerten Krapfen. WOLFGANG MÜLLER

David Edmonds, John Eidinow: „Wie Bobby Fischer den kalten Krieg gewann“. Fischer, Frankfurt am Main 2007, 432 Seiten, 10,95 Euro