AKUSTISCHE TOPOGRAFIE
: Martha, die Sirene

Stufe für Stufe arbeitet sich die Sirene die Treppen hoch

Seit Wochen hatte ich dieses Geräusch im Ohr. Immer, wenn ich morgens meinen Kaffee auf dem Balkon getrunken habe, hörte ich so ein Singen. Als ob jemand Yoga nach Noten am offenen Fenster machte. Ganz merkwürdig.

Der Papagei, der in regelmäßigen Abständen laut gepfiffen hat, als ob ihm jemand den Hals umdrehen würde, kann es nicht mehr sein, der ist voriges Jahr verstummt. Dann gibt es noch den Haushippie, von dem hört man manchmal die besten Hits der 60er und 70er in Stadionlautstärke, aber nie lange am Stück.

Und Martha. Die wohnt auf unserer Etage, ist drei Jahre alt und hat auf Treppensteigen aber so gar keinen Bock. Schon gar nicht in den dritten Stock. Und weil Marthas Mama keine Lust hat, ständig das Kind zu schleppen, können wir anderen Hausbewohner jeden Tag um fünf die Uhr stellen. Dann kommt Martha aus dem Kindergarten. Dann ist sie müde und will nicht laufen, und Marthas Mama ist auch müde und will sie nicht tragen, und dann geht die Sirene los. Und je nachdem, wer stärkere Nerven hat, ebbt die Sirene entweder zu einem Jammern ab, dass sich unendlich langsam, Stufe für Stufe die Treppen in den dritten Stock hocharbeitet, oder man hört die Sirene in voller Lautstärke sehr schnell nach oben fliegen und die Tür zu. Dann hat Marthas Mama sie einfach unter den Arm geklemmt.

Heute war ich in der Apotheke gegenüber von der Riesenbaustelle in der Florastraße. Wegen Ohrentropfen. Ich hab mir nämlich vor ein paar Tagen mein rechtes Ohr verstopft. Beim Saubermachen. Aus Versehen. Ich dachte, vielleicht geht dieses Singen dann weg. Ging aber nicht.

Und dann komme ich aus der Apotheke raus, und plötzlich höre ich das Singen ganz nah und ganz laut. Es war der Baustellenkran, so ein großer gelber. Wenn der sich dreht, dann singt er.

LEA STREISAND