UNTER EINER DÜNNEN LACKSCHICHT DER EMPÖRUNG DER GUTMENSCHEN WIRD DIE FREMDENFEINDLICHKEIT SALONFÄHIG
: Der kranke Mann an der Elbe

VON MIGUEL SZYMANSKI

Die meisten Deutschen, die ich im Alltag beobachte, sind nicht die kosmopolitischen Feuilletonleser und Liebhaber der mediterranen Küche, mit denen ich in Berlin oder Frankfurt im Café sitze. Die Mehrheit in Deutschland identifiziert sich kulturell mit dem Golf vor der Garage und Grillwürstchen, nicht mit Artischocken im Gemüsebeet oder Zeffirelli im Programmkino.

Faro, die europäische Stadt, in der ich die Kindheit verbracht habe, liegt auf demselben Breitengrad wie die südliche Türkei. Entsprechend ist die kulturelle und klimatische Entfernung zur „Gemütlichkeit“ und zur Vereinskultur der deutschen Zentrumsmehrheit. Mit einem Vierteljahrhundert-Intervall musste ich zweimal nach Deutschland auswandern. Ich dachte, beim zweiten Mal würde es einfacher.

Zum grauen deutschen Klima will ich nichts sagen. Christian Morgenstern formulierte es so: „Ein Schnupfen hockt auf der Terrasse, auf das er sich ein Opfer fasse.“ Ich selber bin selten krank, wahrscheinlich, weil ich mit fünf Jahren in den Atlantik gefallen bin und seitdem ganzjährig im Meer schwimme. Was mich krank macht, ist die deutsche Kulturkrankheit. Das alte Deutschland ist jetzt der neue kranke Mann an der Elbe – am Rhein und an der Isar.

Unter einer dünnen Lackschicht der Empörung der Gutmenschen wird die Fremdenfeindlichkeit wieder salonfähig. Die Fahnen hoch: In Bayern macht die CSU einen Vorstoß, und das Land regt sich auf bis zur Nordsee. Was? Wie? entrüstet sich die gebildete Elite beim Latte macchiato. „Zu Hause sollen Ausländer Deutsch sprechen müssen? Das geht entschieden zu weit!“

Zu Hause ist nicht das Problem.

Ich will mit meinen Töchtern draußen, beim Spazierengehen, in Geschäften weiterhin in meiner Fremdsprache reden können, ohne dass mich Passanten und Kunden von der Seite anschauen oder leicht zusammenzucken, als hätte ich Sprengstoff unter der Tweedjacke. Ich kenne Deutsche, die seit 20 Jahren an der Algarve oder an der Costa Brava leben und keinen Satz Portugiesisch oder Spanisch können. Niemand regt sich dort darüber auf.

Deutschland leidet an einer bipolaren Krankheit zwischen exzessivem und mangelndem Selbstbewusstsein. Deutscher sein ist so schrecklich schön. So lange war das Land fragmentiert, politisch und religiös, so oft zwischen Krieg und Frieden, Opfer- und Schlächterrolle hin- und hergerissen, dass lange Zeit der Nachbar entweder kein guter Bayer, kein guter Schwabe, kein guter Katholik, kein guter Protestant oder ein böser Jude war. Man brauchte keine Ausländer, um fremdenfeindlich zu sein.

Jetzt ist Deutschland seit einem Vierteljahrhundert wieder eins und auf einmal stört der Fremdenverkehr. Nicht die Fremden in den Nobelrestaurants und Luxushotels. Nein, die Unterschichtenfremden, der Bärtige nebenan, die Dunkle um die Ecke, der Gelbe vor dem Regal mit dem Plastikschrott (was man alles ins Land lassen muss, um ungestört Autos, Maschinen und Waffen exportieren zu können).

Was machen die guten Bürger? Sie marschieren durch die Städte, die Reihen fest und fester geschlossen. Oben auf dem Politparkett ist Entrüstung, unten auf der Straße wieder Prozession. Als ich vor genau sieben Monaten neben dem Umzugswagen in einem schönen Wohnviertel einer schönen deutschen Großstadt stand, wurde ich von einem Nachbarn begrüßt. „Ich würde hier eher ausziehen“, war sein erster Satz, „die Ausländer haben hier bald alles in der Hand.“ Er hob leicht die Augenbrauen, als ich meine Frau vorstellte und sie entschuldigte, „sie spricht leider noch kein Deutsch.“

Was macht der Mensch, wenn er krank ist? Wenn es ein Schnupfen ist, sagt er „Pitschü“ und hat ihn dann „bis Montag früh“. Aber das scheint chronisch zu sein.