„100 Tage sind kein Datum“

Rot-Grün regiert seit 99 Tagen in Bremen: Bürgermeister Jens Böhrnsen (SPD) erklärt, welche Schwerpunkte die neue Regierung gesetzt, welche Weichen sie gestellt hat – und warum die kleine Mehrheit besser spart als die große Koalition

JENS BÖHRNSEN, 58, SPD, ist gebürtiger Bremer. 2005 hat er Henning Scherf als Bürgermeister abgelöst und zunächst die CDU-Koalition fortgesetzt. Rot-Grün regiert seit dem 29. 6.

INTERVIEW JAN ZIER
UND BENNO SCHIRRMEISTER

taz: Herr Böhrnsen, ist Bremen noch zu retten?

Jens Böhrnsen: Die Frage ist falsch gestellt. Bremen ist ein wirtschaftlich starkes Land. Und es hat, da zitiere ich gern den EU-Kommissar Günter Verheugen, durch seine Lage in Europa, und dem was es zu bieten hat – zum Beispiel an Häfen und Logistik – nicht nur eine große Tradition. Es wird auch eine große Zukunft haben.

Gegenwärtig ist es aber in einer großen Krise – an der sich seit 100 Tagen die neue Koalition abarbeitet. Was kann Rot-Grün, was die große Koalition nicht konnte?

Wir haben zwei Ziele, die auf den ersten Blick paradox scheinen: Einerseits weniger Geld auszugeben als der Vorgänger-Senat. Das müssen wir tun, wenn wir mit unserer Klage vorm Bundesverfassungsgericht und in den Verhandlungen um Finanzverteilung zwischen Bund und Ländern Erfolg haben wollen. Andererseits setzen wir politische Schwerpunkte in Bereichen, die für die Zukunft unserer beiden Städte ausschlaggebend sind.

Hätte die unangenehme Sparaufgabe nicht einer großen Koalition leichter fallen müssen?

Ich will mich nicht in Vergangenheitsbewältigung ergehen. Das führt nicht weiter. Wir haben uns etwas vorgenommen im Koalitionsvertrag, was sehr ambitioniert ist – und uns von der großen Koalition auch abhebt. Wir werden jeden Euro dreimal umdrehen – und nicht nur behaupten, das zu tun.

Bei der Vorstellung der Haushalts-Eckwerte haben Sie den gemeinschaftlichen Charakter der Verhandlungen betont. Das scheint doch ein Unterschied zur Vorgänger-Koalition zu sein…

Ja. Wir haben sehr faire und sehr kollegiale Formen des Umgangs. Das unterscheidet sich ganz augenfällig von dem, was in der letzten Phase der großen Koalition zu spüren war. Das ist das eine. Das andere: Wir betrachten die Dinge mit realistischem Blick. Wenn ein Senatsmitglied in den Haushaltsberatungen eine gesetzlich bedingte Ausgabensumme als notwendig angemeldet hat, sind wir davon ausgegangen, dass der Bedarf tatsächlich besteht und haben nicht die Augen davor verschlossen. Wir wollen keine virtuellen Haushalte aufstellen. Wir wollen die Solidarität mit den Aufgaben der jeweils anderen Ressorts auch im Haushalt ausdrücken.

Die Solidarität der betroffenen BürgerInnen hält sich aber in Grenzen: Dass die BeamtInnen-Besoldung ein halbes Jahr später als geplant angehoben wird, verursacht Gegenwind…

Das ist beim Sparen und bei Reformen immer so: Alle wollen es – so lange sie das Ergebnis nicht tangiert. Man muss manchmal den Mut haben, auch eine Entscheidung zu treffen, die nicht allseitige Zustimmung findet.

Na, aber immerhin ist es doch ein Beitrag zur Selbständigkeit Bremens…

Nein, das ist jetzt falsch. Ich bin ein glühender Verfechter der bremischen Selbständigkeit – und zwar nicht aus nostalgischen, sondern aus ganz pragmatischen Gründen: Es stimmt, dass wir unser Schicksal dadurch in die eigene Hand nehmen können – und uns nicht in einer fernen Landeshauptstadt hinten anstellen müssen. Aber die Anstrengung, unsere Finanzen auf sichere Füße zu stellen, unternehmen wir nicht, um einen Status zu bewahren…

Sondern?

Das hat mit politischen Gestaltungsmöglichkeiten zu tun. Wenn Bayern eine Zinsbelastung von 150, Bremen hingegen von 750 Euro pro Einwohner hat, dann liegt in der Differenz politische Handlungsfähigkeit. Mir geht es darum, diese Handlungsfähigkeit wiederzugewinnen, um eine soziale Politik für unser Bundesland zu machen. Ich bin kein Technokrat oder kalter Sanierer. Ich habe das Ziel, dass Politik in Bremen soziale Gesellschaft gestalten kann.

Nach 100 Tagen fällt es allerdings noch schwer, Zeichen des Aufbruchs wahrzunehmen…

100 Tage sind für mich kein Datum. Ich bin auf die gesamte Legislaturperiode und darüber hinaus ausgerichtet, was die rot-grüne Zusammenarbeit betrifft. Für eine Bilanz ist es jedenfalls noch zu früh. Man kann erste Eindrücke haben.

Welche denn?

Wir haben in entscheidenden Fragen die Weichen gestellt. Den Haushalt habe ich angesprochen. Wir werden wahrscheinlich in ganz Deutschland das einzige Land sein, das seine Ausgaben senkt. Aber auch, wenn Sie sich an einzelnen Punkten orientieren: Da ist beispielsweise das Ziel, Bremen zur Stadt der Energiekompetenz zu machen. Oder das Verbandsklagerecht: Wir haben das Verbandsklagerecht im Tierschutz eingeführt

Davon ist die Forschungs-Lobby gar nicht begeistert. Und Rot-Grün setzt doch auf Wissenschaft als Arbeitsmarktmotor. Wie passt das zusammen?

Zur Wissenschaft gehört die Wissenschaftsfreiheit: Sie steht im Grundgesetz. Wir werden sie achten. Aber im Grundgesetz stehen auch andere Ziele, wie der Tierschutz. Und wenn es konkurrierende Ziele gibt, muss man sich einen schonenden Ausgleich überlegen. Das ist die Debatte, die geführt wird. Meine Abwägung, das habe ich schon früh gesagt, führt dazu, dass wir aus den Affenversuchen aussteigen müssen.

Entscheidet Politik damit nicht eine Methodenfrage?

Nein, Politik nimmt sich nicht heraus, die Methode von Wissenschaft zu beurteilen. Aber sie stellt die Frage, ob sie Gelder bewilligen muss für Forschungsbereiche, die sie bei eigener Abwägung nicht für vertretbar hält. Es gibt ja kein Verbot.

Und das Verbandsklagerecht?

Das bedeutet nicht mehr und nicht weniger, als dass ein Stück Chancengleichheit hergestellt wird. Wenn ein Tierversuch nicht genehmigt wird, kann der Forscher Widerspruch einlegen. Wenn die Genehmigung erteilt wird, konnte bislang niemand klagen. Das haben wir geändert.

Sie haben gesagt: Sie planen über die Legislaturperiode hinaus. Wie soll der Sparkurs zur Wiederwahl führen?

Welche Alternative empfehlen Sie mir denn? Der Kern ist: Wir sind eine Koalition, die sich auf bremische Zukunftsfragen konzentrieren will. Die haben etwas mit Kindern, Ausbildung, Arbeit und Wissenschaft zu tun. Und nicht unbedingt mit herausragenden touristischen Projekten.