Aufschlussreiche Lichtblitze

Ein fast vier Kilometer langer Röntgenlaser soll Wissenschaftlern am Hamburger Desy-Forschungszentrum Einblicke in den Nanokosmos ermöglichen. Die Bilder auf molekularer Ebene versprechen neue Perspektiven für Industrie und Forschung

VON JAN WEHBERG

1895 entdeckte Wilhelm Conrad Röntgen seine „X-Strahlen“, doch die Tragweite und medizinische Bedeutung seiner Arbeit erfasste er zunächst nur ansatzweise. Die Gefahren der ionisierenden Strahlung konnte er ebenso wenig einschätzen wie die gehobene Gesellschaft, die in der Durchleuchtungstechnik ein unterhaltsames Partygimmick sah und ausgiebige „Röntgenparties“ mit gruseligen und anrüchigen Bildern ihres Innenlebens feierte.

Inzwischen ist der Umgang mit Röntgenstrahlen sehr viel bewusster. Nicht nur was die potentiellen Gefahren angeht, sondern auch die Anwendbarkeit. Das Deutsche Elektronen-Synchrotron (Desy) in Hamburg-Bahrenfeld betreibt naturwissenschaftliche Grundlagenforschung in Sachen Teilchenphysik und leistet Pionierarbeit bei der Nutzung der Röntgenstrahlung.

Diese Position soll ab 2013 der „X-Ray Free-Electron Laser“, kurz XFEL, noch weiter festigen. Er wird hochintensive, ultrakurze Röntgenblitze mit den Eigenschaften von Laserlicht erzeugen. Was beim Laien an dieser Stelle vermutlich nur ein Schulterzucken hervorruft, dürfte den Experten noch sechs Jahre lang schlaflose Nächte der Vorfreude bringen: „Tausende von Wissenschaftlern werden jedes Jahr für ihre Forschung am XFEL nach Hamburg kommen“, prophezeit zumindest Hamburgs Wissenschaftssenator Jörg Dräger (parteilos).

„Wir werden die Möglichkeit haben, Biomaschinen bei der Arbeit zu beobachten“, erklärt Rolf Treusch, 42, Physiker bei Desy, die Möglichkeiten. Und weiter: „Sehr interessant wird das beispielsweise bei den Ribosomen.“ Diese Proteinkomplexe in den Zellen gehören zu den Orten der DNA-Synthese.

Auch für die Industrie soll diese „Lichtquelle der Superlative“ ungeahnte Perspektiven eröffnen. Die mit 1/10 Nanometer unvorstellbar kurzen und intensiven Röntgenimpulse – 30.000 pro Sekunde – werden es ermöglichen, chemische Reaktionen mit atomarer Auflösung regelrecht zu filmen. „Einen durchlaufenden Film können wir zwar nicht erzeugen“, sagt Treusch, „aber verschiedene Momentaufnahmen erstellen, die dem dann sehr nahekommen.“ Dazu müssten diese Prozesse aber immer wieder neu in Gang gebracht werden. „Wir starten eine Reaktion und halten das Ergebnis fest. Anschließend muss der gleiche Ablauf erneut initialisiert werden und einen winzigen Bruchteil später als zuvor festgehalten werden.“

Auf diese Weise lassen sich etwa Bewegungen von Biomolekülen oder die Entstehung von Feststoffen sichtbar machen. Hamburg-Bahrenfeld wird also zum Eldorado für Materialforscher, Molekularbiologen und andere Menschen, die bei Teilchenphysik Schnappatmung bekommen. Auch die Medikamentenforschung verspricht sich neue Möglichkeiten von dem Projekt.

Neben Deutschland, China und Russland haben zehn europäische Staaten ein Memorandum zur Finanzierung und Nutzung unterschrieben. Rund eine Milliarde Euro wird in das Projekt investiert. Darunter 70 Millionen von der Stadt Hamburg und 30 Millionen vom Land Schleswig-Holstein. Im dortigen Schenefeld, vor den Toren Hamburgs, wird die 3,4 Kilometer lange Messstrecke von der Dimension eines U-Bahn-Tunnels enden. Auch die Messanlagen und die Verwaltung werden dort gebaut.

Die Sorgen der Anwohner entlang der Strecke scheinen inzwischen zerstreut zu sein: Bedenken wegen einer möglichen Strahlenbelastung, dem Wertverfall von Grundstücken und Beeinträchtigung durch die Baumaßnahmen konnten laut Desy-Sprecherin Petra Folkerts entkräftet werden.

Zur Zeit ist bei Desy die Versuchsanlage „Flash“ in Betrieb, in der die XFEL-Technologie bereits erfolgreich getestet wird. Seit fast 50 Jahren forscht das mit öffentlichen Mitteln finanzierte Forschungszentrum auf dem Gebiet von Bau und Entwicklung von Beschleunigeranlagen, Teilchenphysik und Forschung mit Photonen.

Desy hat aber nicht nur für Forscher Platz, sondern bietet auch Erbauliches für alle anderen Physikinteressierten, zum Beispiel die „Hertz Vorträge“, die einem breiten Publikum Einblicke in die moderne Grundlagenforschung geben sollen. Außerdem finden regelmäßig Abendvorträge zu Aspekten der Naturwissenschaften statt.

Besichtigungen von Desy in Hamburg sind für Gruppen von mindestens zehn Personen montags bis freitags um 10.30 und 14 Uhr möglich. Kleinere Gruppen und Einzelpersonen können sich entweder einer Gruppe anschließen oder zur allgemeinen Besichtigung kommen: an jedem 1. Samstag im Monat, 10 Uhr, Treffpunkt: Haupteingang, Notkestraße 85. Anmeldung bei der Abteilung Öffentlichkeitsarbeit (☎ 040 / 89 98-36 13) ist erforderlich.