Von Relikten und Realitäten

INNOVATION Der Band „Industrie in Bremen“ wirft ausgewählte Schlaglichter auf die an Erfolgen und Pannen reichhaltige Technikgeschichte der Hansestadt

Fockes FW 61 ging nicht in die Serienproduktion, was angesichts der potenziellen Nützlichkeit des Helikopters für den NS-Staat nur als Glück bezeichnet werden kann

Von HENNING BLEYL

„Bremen steht für spröden Charme und Fantasie, für Konservatismus und Innovativität.“ Diese Zuschreibung, die Ulf Kaack und Peter Kurze ihrem jetzt im Wartberg Verlag erschienenen Band „Industrie in Bremen“ voranstellen, umreißt auch den Charakter der Publikation selbst: Das Buch verbindet ebenso informatives wie charmantes Foto-Material mit teils spröden, aber kenntnisreichen Texten – und beweist in der Auswahl der vorgestellten Technikdenkmäler durchaus Innovationsfreude, gelegentlich gar Fantasie …

Aus ihren Privatarchiven haben die einschlägig versierten Autoren Kaack und Kurze zahlreiche selten zu sehende Aufnahmen beigesteuert, etwa die vom weltweit ersten gesteuerten Helikopterflug im Juni 1936 auf dem Bremer Flugplatz. Henrich Fockes FW 61 ging nicht in die Serienproduktion, was angesichts der potenziellen Nützlichkeit des Helikopters für die Zwecke des NS-Staates nur als Glück bezeichnet werden kann. Für den Borgward-Konzern konstruierte Focke ab 1956 den Hubschrauber „Kolibri“, der erfolgreich erprobt wurde, aber ebenfalls nicht in Serie ging – dem stand Borgwards Konkurs 1961 im Weg.

„Industrie in Bremen“ vermittelt nicht nur Technik-Geschichte, sondern auch ästhetische Dimensionen derselben. Schwarz/weiß-Aufnahmen demonstrieren die Eleganz, die der Flughafen in den 50er und 60er Jahren besaß, von der Schalterhalle mit den funktionalen Freischwinger-Sesseln bis zum Restaurant unmittelbar am Rollfeld. Ganz zu schweigen von der ersten fahrbaren Gangway, einer hochästhetischen Mischung aus Oldtimer-Rennauto, Autobus und Feuerwehr-ähnlichem Leiteraufbau.

Kaack und Kurze begnügen sich jedoch keineswegs mit der Feier Bremer Pioniertaten. Auch eindrucksvolle Bruchlandungen werden in ihrem Buch dokumentiert. So die desaströse Notlandung der „Europa“ auf dem Neuenlander Feld, des Schwesterflugzeugs der „Bremen“, mit der 1927 bekanntlich die erste Atlantiküberquerung in der Luft von Ost nach West gelang – aber eben nicht allen ursprünglich beteiligten Maschinen… Auch dem freien Fall der Vulkan, Anfang des 20. Jahrhunderts die führende deutsche Werft, ist ein Kapitel gewidmet. Wohltuenderweise werden dort keine regional-ökonomischen Dolchstoßlegenden verbreitet, sondern klar benannt, was nicht zuletzt zur Liquidation des Unternehmens beitrug: Der Vorwurf der Umleitung von 850 Millionen Euro an Fördermitteln, die den 1992 erworbenen Ostwerften in Rostock, Wismar und Stralsund wohl vorenthalten und den westdeutschen Betriebsteilen – also der Vegesacker Stammwerft – zugeschanzt werden sollten. Der vorausgegangene fast flächendeckende Aufkauf der Ostwerften erscheint im Rückblick als Mischung aus Größenwahn und Verzweiflungstat – fünf Jahre später war der Vulkan am Ende.

Das Kapitel über die Lloyd-Motorenwerke, der berühmten Borgward-Tochter, erinnert durch sein opulentes Fotomaterial daran, dass Kurze der mit Abstand profilierteste Automobil-Historiker Nordwestdeutschlands ist. Dass er dieser Leidenschaft auch im vorliegenden Band breiten Raum einräumt, ist durch sein Material mehr als gerechtfertigt. Zumal ja andere Industriezweige keineswegs zu kurz kommen: Neben einer umfangreichen Würdigung des 1989 abgerissenen Weserwehrs samt seiner Schleussysteme findet auch die Kaffee-Industrie ihren Platz, wobei die Autoren auch die propagandistische Genialität eines Ludwig Roselius veranschaulichen: Der wurde bekanntlich nicht nur durch den herzschonenden Kaffee Hag reich, sondern auch durch die Parallel-Marke „Onko“, was eigentlich für „Ohne Koffein“ stand. Nichtsdestoweniger kam das Produkt mit Koffein auf den Markt – und verkaufte sich dank intensiver Bewerbung hervorragend.

Etwas überraschend finden sich in „Industrie in Bremen“ auch Beiträge über das Focke-Museum und das Kaufhaus Bamberger. Als erstes großes Bremer Kaufhaus, auch als erstes hiesiges Hochhaus überhaupt, kann es natürlich als Impulsgeber einer „Industrialisierung der Warenwelt“ angesehen werden.

Ein solcher Ansatz wird von den Autoren allerdings nicht verfolgt, es geht ihnen eher um das neunstöckige Gebäude und die – in der Tat beeindruckende – Person des jüdischen Unternehmers Julius Bamberger. Wobei dessen Schicksal etwas knapp dargestellt wird: Er konnte mit seiner Familie nicht einfach nach seiner abermaligen Verhaftung im besetzten Frankreich fliehen, sondern meisterte eine abenteuerliche Flucht aus einem Internierungslager. Als Schäfer verkleidet schaffte er es, sich zu einem weiteren französischen Lager durchzuschlagen, aus dem er seine Tochter befreite. Seine (nicht-jüdische) Frau wählte in ihrem Haus an der Parkallee den Freitod. Das sind Themen und existentielle Dimensionen, die in einem „Industrie in Bremen“-Band möglicherweise keinen angemessenen Platz finden können – und dennoch nicht weggelassen werden sollten, wenn man solche Menschen als handelnde Personen in eine Darstellung hinein nimmt.

Schließlich ist auch der abschließende Exkurs des Buches rein persönlich-biographisch mit den sonstigen Kapiteln verbunden. Fockes Garten, die verwunschen-vergessen-verlärmte Grünanlage an der Eisenbahnbrücke nach Oldenburg, ist das letzte Relikt des früher hier beheimateten Focke-Museums. Gründer der Sammlung ist der Vater des Helikopter-Erfinders, Johann Focke – insofern schließt sich hier ein Kreis.

Als Ziel und – durchaus erreichtem – Zweck des Buches erscheint somit weniger eine systematisch-stringente Darstellung der Industriegeschichte Bremens, sondern die Vorstellung von Orten, wo viele Facetten derselben heute noch, zumindest relikthaft, erfahrbar sind. Denn ein Besuch etwa im Marmorsaal des Roselius’schen Kaba-Werkes in der Überseestadt, für den das Buch alle notwendigen Informationen bereitstellt, ist eine echte Alternative zu den abgegrasten innerstädtischen Ausflugszielen der Hansestadt.