: Vom Leben auf der Straße
In Zeiten der digitalen Fotogemälde eine wohltuend anachronistische Erfahrung: Die erste große Retrospektive „Secrete Views“ der Fotografin Roswitha Hecke im Berliner Martin-Gropius-Bau
VON ACHIM DRUCKS
Unter der schief sitzenden Perücke hervor mustert der Transvestit seinen Kollegen, der gerade mit einem Freier rumknutscht. Der Schauspieler Ben Becker und seine Freundin, nackt, eng umschlungen im zerwühlten Bett. Barry und Douglas, zwei Obdachlose auf der New Yorker Bowery, lächeln entspannt. Trotz ihrer vom harten Leben auf der Straße gezeichneten Gesichter wirken die beiden wie zufriedene Frührentner. Roswitha Hecke ist sehr nah dran, an den Menschen, die sie fotografiert. „Diese Nähe entsteht, indem ich mich öffne und so die anderen öffne“, erzählt die 1944 geborene Fotografin. „Es muss eine Beziehung entstehen. Mit den Obdachlosen war ich jeden Tag zusammen, habe Weihnachten und Silvester mit ihnen verbracht. Irgendwann haben sie mich und die Kamera gar nicht mehr wahrgenommen.“
Diese Einfühlsamkeit zeichnet schon die erste ihrer Fotoserien aus. „Hafenkinder“ entstand 1964 in ihrer Heimatstadt Hamburg. In den Schwarz-Weiß-Aufnahmen ist bereits alles angelegt, was ihre späteren Arbeiten auszeichnen wird: die Sympathie, mit der sie den Menschen begegnet, die Faszination für das Leben auf der Straße, das Eintauchen in Welten, die eher am Rande der Gesellschaft angesiedelt sind. Drei der frühen Bilder sind jetzt im Berliner Martin-Gropius-Bau zu sehen, in Roswitha Heckes erster großer Retrospektive. Auf einem der Fotos posieren zwei Jungen mit Cowboyhüten und Schreckschusspistolen an einer Mülltonne, auf einem anderen sitzt ein blondes Mädchen mit übereinandergeschlagenen Beinen auf einer Treppe und grinst etwas kokett in die Kamera. Später wird Hecke einen Cop vom Morddezernat in der South Bronx mit ihrer Kamera beobachten und Irene, eine glamouröse Hure, einen Monat lang durch Zürich und Rom begleiten.
„Secret Views“ lautet der Titel der Ausstellung. Geheime Blicke klingt nach Voyeurismus. Damit allerdings haben Heckes Arbeiten gar nichts zu tun. Es geht ihr vielmehr um Authentizität, um einen einfühlsamen, dabei aber völlig unsentimentalen Blick auf die Menschen. Und der ist auf fast allen der 130 Exponate zu spüren – von den frühen Schwarz-Weiß-Bildern bis zu ihren aktuellen Farbaufnahmen. Die Schau beschränkt sich nicht auf ihre bekannten Serien, die sie schon in Buchform veröffentlicht hat. Wie „Liebes Leben“, das Projekt mit Irene, oder ihre Impressionen aus den New Yorker Boxgyms, die für Wolf Wondratscheks „Menschen Orte Fäuste“ entstanden. Zu sehen sind auch ihre Milieustudien aus dem Ruhrgebiet der frühen Siebziger, aus Tanger, wo sie drei Jahre gelebt hat, und immer wieder Bilder von Menschen, denen sie bei ihren Streifzügen durch Städte auf der ganzen Welt begegnet ist.
Die Schau ist thematisch geordnet. Neben den Hafenkindern hängen Heckes Porträts der Schauspielerfamilie Bennent, Freunde, die sie seit 1967 immer wieder fotografiert. Eines ihrer beeindruckendsten Bilder zeigt den zweijährigen David Bennent. Mit unglaublich wachen, wissenden Augen schaut er selbstbewusst in die Kamera. Kennengelernt hat sie die Familie bei ihrer Arbeit als Theaterfotografin für Peter Zadek, mit dem sie sieben Jahre zusammen war. Exklusiv dokumentierte sie seine Inszenierungen, aber auch das Leben hinter der Bühne. Schauspieler sind von da an eines ihrer bevorzugten Motive. Sie porträtiert Angela Winkler, Ingrid Caven, Werner Schroeters Muse Magdalena Montezuma, arbeitet für Fassbinder und Rohmer als Set-Fotografin. Eine andere Konstante in Heckes Leben sind Reisen. Als Au-pair-Mädchen war sie das erste Mal im Ausland. „Von London habe ich mich sofort umarmt gefühlt. Das war ein richtiges Befreiungsgefühl. Ich fühle mich nirgendwo wirklich zugehörig, in Deutschland vielleicht am wenigsten.“
Nach ihrer Trennung von Peter Zadek zog Roswitha Hecke 1975 nach Paris. Eigentlich will sie hier Prostituierte fotografieren. Zufällig findet sie ein Zimmer in einer der Straßen von Pigalle, wo die Transvestiten anschaffen gehen. Sie freundet sich mit ihnen an, dokumentiert ihr Leben zwischen Gosse und Glamour. Vor kurzem sind diese eindringlichen Aufnahmen als Buch erschienen. Nach ihrer Zeit in Paris fotografiert die – wie sie selbst sagt – Nomadin in der Türkei, Ägypten, Indien, Nepal. In Mexiko-Stadt entdeckt sie ein kleines Erotiktheater. Hier entstehen einige ihrer stärksten Aufnahmen. Trotz der grotesken Posen lässt sie die Performer nie wie Freaks erscheinen.
Mit Irene, der Hure, die sie in ihrem bekanntesten Buch feiert, teilt Roswitha Hecke die Liebe zur Straße. Sie ist die Bühne, auf der sich die üppige Schönheit mit den langen blonden Locken in Szene setzt. Und die Fotografin beobachtet sie dabei. Ihre Passion für das Leben in den Städten und die Außenseiter der Gesellschaft verbindet Hecke mit den Protagonisten der amerikanischen street photography. Etwa Bruce Davidson, der in seinem Buch „East 100th Street“ das Leben in einem heruntergekommenen Wohnblock in Spanish Harlem dokumentiert oder einer Jugendgang durch Brooklyn folgt. Wie der Amerikaner beweist auch Roswitha Hecke, dass die Kamera durchaus imstande ist, ein Bild der Wirklichkeit festzuhalten. Auch darum ist der Besuch ihrer Ausstellung in Zeiten überdimensionaler digitaler Images, die als Ersatzgemälde über Sammlersofas hängen, eine wohltuend anachronistische Erfahrung.
Bis 6. Januar, Martin-Gropius-Bau Berlin, Katalog (Schirmer/Mosel, München) 29,80 €
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