: Täter, Opfer, Zuschauer
Saul Friedländer hat die Geschichtsschreibung der Schoah maßgeblich verändert. Zu Recht erhält er den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels
VON CHRISTIAN SEMLER
Was für eine glückliche Entscheidung für den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels! Saul Friedländer, mittlerweile 75 Jahre alt, ist einer der wichtigsten Historiker des nazistischen Mordes an den europäischen Juden. Er steht mit seinem Lebenswerk für eine Sicht des „Dritten Reiches“, die diese Mordtat zum Angelpunkt der nationalsozialistischen Herrschaft macht.
Friedländer beharrt darauf, dass es die Ideologie des fanatischen Judenhasses war, der die Nazitäter motivierte. Er verficht nicht die These, die Nazis hätten seit ihrer „Machtergreifung“ das Ziel der Judenvernichtung ständig und konsequent verfolgt. Aber er führt viele wichtige Beweise dafür an, dass es Ende 1941, als das „Kriegsglück“ sich wendete, zum Vernichtungsbefehl durch die Naziführung kam. Da dieser Befehl von unwandelbarem Hass auf die Juden geleitet war, hat Friedländer die These von einer richtungslosen „kumulativen Radikalisierung“ der Mordaktionen stets kritisiert.
Die Ideologie des Judenhasses hatte laut Friedländer große Teile des deutschen Volkes infiziert. Schon früh hat er Material für die These zusammengetragen, dass der Mord an den Juden keineswegs ein Betriebsgeheimnis der Nazis gewesen war, eine Einsicht, die jüngst durch Arbeiten von Peter Longerich und Frank Bajohr zusätzlich erhärtet wurde. Was Friedländer seit Jahrzehnten umtreibt, ist das Schweigen aller Menschen und Institutionen in Deutschland (und darüber hinaus in Europa) zur Verfolgung und Vernichtung der Juden. Sie, die Wissenschaftler, Kirchenmänner, gebildeten Bürger, wären berufen gewesen, ihre Stimme zu erheben. Von seiner frühen Studie über das Verhalten des Vatikans angesichts des Judenmordes bis in sein jüngstes Werk über „Die Jahre der Vernichtung“ blieb dieses Gefühl der Fassungslosigkeit angesichts des ungeheuren Zivilisationsbruchs ein Antrieb für Friedländers Forschungsarbeit.
Saul Friedländer ist ein penibel arbeitender Gelehrter, der über einen enormen Fundus historischer Kenntnisse gebietet, ein Homme de Lettres, dessen Geschichtsschreibung auch Leser begeistert, die der übliche Wissenschaftsjargon sonst abschreckt. Die weltbürgerliche Haltung, eine seltene Großzügigkeit und Rücksichtnahme auch auf wissenschaftliche Gegner verdankt sich auch den Wechselfällen seiner Biografie. Friedländer entstammt einer deutschsprachigen jüdischen Prager Familie und wurde von seinen nach Frankreich emigrierten Eltern in ein katholisches Internat gesteckt, wo er konvertieren musste. Nach 1945 bekannte er sich wieder zum Judentum, ging nach Israel, beteiligte sich am Unabhängigkeitskrieg, studierte und lehrte anschließend in der romanischen Schweiz. Später wurde er Professor in Israel und von dort in die USA berufen, wo er heute noch in Los Angeles lehrt. Die Jahre seiner Jugend hat er schon in den 70er-Jahren in dem jetzt neu aufgelegten Buch „Wenn die Erinnerung“ kommt beschrieben.
Friedländer hatte bei seinem großen Werk „Das Dritte Reich und die Juden“, dessen zweiter Band, „Die Jahre der Vernichtung“, 2006 erschien, eine klare Zielvorstellung. Er wollte „eine integrierte Geschichte des Holocaust“ schreiben. Darunter verstand er, dass die Geschichte der Judenvernichtung nicht an den Grenzen des Deutschen Reiches haltmachte und sich nicht auf die Entscheidungen der Deutschen einschränken ließ. Vielmehr waren im europäischen Maßstab alle an dem Drama Beteiligten und ihre Interaktion zu berücksichtigen.
Zweitens und entscheidend kam es Friedländer darauf an, die „jüdische Dimension“ einzubeziehen. Nicht nur auf der Ebene der Institutionen, sondern im „Mikrobereich“, durch die Schilderung einzelner Schicksale. Wie keinem Autor vor ihm ist Friedländer dieser Versuch geglückt. Bei seiner Erzählung hat er sich vielfach auf Tagebücher und Briefe der Verfolgten gestützt. Sie sind für ihn nicht illustrierendes Beiwerk, sondern Beweisstücke von unvergleichlicher Eindringlichkeit. Sie durchbrechen, was der Autor die Selbstgefälligkeit wissenschaftlicher Distanziertheit nennt.
Die durchgängige Berücksichtigung der Stimme der Verfolgten wirkt heute selbstverständlich angesichts von Bestsellern wie Victor Klemperers Tagebüchern und früher schon dem „Tagebuch der Anne Frank“. Tatsächlich aber haben die im deutschen Sprachraum erschienenen Darstellungen „der Endlösung“ auf diesen Zugang fast vollständig verzichtet. Unkenntnis der slawischen Sprachen und des Jiddischen sind hierfür keine hinreichende Erklärung, erschienen doch eine Reihe solcher Zeugnisse auch in deutscher Übersetzung, ohne dass sie jemals ihren Platz in einer Gesamtdarstellung des Nationalsozialismus gefunden hätten.
Die Bedeutung von Friedländers Werk erklärt sich aber auch vor dem Hintergrund eines viel größeren Versäumnisses: Der Mord an den europäischen Juden war lange Zeit überhaupt kein Thema für die deutschen Zeithistoriker. Die erste Ausgabe von Raoul Hilbergs großem Werk „Die Vernichtung der europäischen Juden“ erschien in den 70er-Jahren bei dem linken Kleinverlag Olle & Wolter und blieb in Historikerkreisen fast unbeachtet. Die erste Holocaust-Konferenz fand erst Mitte der 80er-Jahre in Stuttgart statt. Die Geschichte des Judenmords auch nur zu dokumentieren wurde lange Zeit jüdischen Historikern und Publizisten überlassen, die wie Joseph Wulf die Nichtbeachtung durch die Zunft der Zeithistoriker ertragen mussten.
Saul Friedländer hat sich mit diesem Stand der Dinge nicht abgefunden, sondern seit Mitte der Achtzigerjahre, im Zusammenhang mit dem Historikerstreit, eine Debatte eröffnet, deren Nachwirkung bis in unsere Tage reicht. Es handelt sich um die Auseinandersetzung mit dem bedeutenden deutschen Historiker Martin Broszat und seinem Plädoyer für eine „Historisierung“ der Nazizeit. Broszat war es nach eigenem Bekunden darum gegangen, einer sentimental-trivialen, nur formalen und konsequenzlosen Behandlung des Nazismus ein möglichst genaues, faktengestütztes, rational begründetes Geschichtsbild entgegenzusetzen.
Was Friedländer auf den Plan rief, war Broszats These, dass bei den (jüdischen) Opfern ein mythischer Kern ihre Erklärung der Mordtaten bestimme. Ohne diesen Mythos herabzuwürdigen, wollte Broszat ihn doch an seinen möglichen produktiven Funktionen messen. Gegen diese Argumentation wandte Friedländer ein, Broszat nehme für die deutschen Historiker die abgeklärte rationale Haltung in Anspruch, die er den jüdischen Historikern systematisch abspreche. Dann aber wechselte Friedländer auf das Terrain seines Gegners und fragte, welche intellektuellen und ethischen Vorurteile, welches Gepäck eigentlich die tonangebende deutsche Zeithistorikerzunft, fast alles Angehörige der „Flakhelfer“ und HJ-Generation, in ihre wissenschaftliche Arbeit einbringt.
Friedländer führte aus Broszats Arbeiten eine Reihe von Schlüsselbegriffen ein, die zeigten, dass es dem deutschen Historiker doch letztlich um die Verteidigung einer „normalen“ Existenz vieler Deutscher unter dem Nationalsozialismus ging. In der Rückschau konstatierte er, dass Broszat versuchte, eine Konkurrenz der Opfer zu etablieren. Ständige, kritische Selbstbefragung des Historikers nach seinen Voraussetzungen – das ist die Botschaft, die Friedländer den deutschen Kollegen ans Herz legt. Sie ist nach wie vor aktuell.
Saul Friedländer: „Das Dritte Reich und die Juden“. 1.317 Seiten, 38 € „Nachdenken über den Holocaust“. 201 Seiten, 12,95 € „Wenn die Erinnerung kommt“, 192 Seiten, 16,90 €; alle im C. H. Beck Verlag
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