MATTHIAS STÜHRWOLDT GRÜNLAND
: Stallgeruch im Wartezimmer

Erst war da Hass. Weil der Zahnarzt quälte, die Mutter nicht helfen konnte und nach Kuh roch. Dann kam Birgit

Zahnpflege spielte in meiner Vorschulkindheit eine sehr untergeordnete Rolle. Ich glaube, meine erste Zahnbürste bekam ich bei meiner Einschulung vom Kreisgesundheitsamt geschenkt, in einer durchsichtigen Plastiktüte, zusammen mit einer Probepackung Zahnpasta und einem Zahnputzbecher, auf dem stand: „Nach dem Essen Zähneputzen nicht vergessen!“

Als ich ein Kind war, hatten meine Eltern anderes im Kopf, als auf die Zahnpflege ihrer Kinder zu achten. Sie hatten den Hof am Laufen zu halten, da konnten sie sich nicht noch um die Milchzähne ihrer Bälger kümmern.

Wenn schon, dann höchstens im destruktiven Sinne. Vor dem Schlafengehen gab es nämlich immer noch „ein Schönes“. So hießen Süßigkeiten in unserem Familienjargon. Ich nehme das meinen Eltern nicht übel. Sie haben ihr Bestes getan. Und bald konnten sie mit mir in den Nachbarort fahren, zum Zahnarzt.

Der schüttelte immer den Kopf, wenn er mir in den Mund starrte. Dann tat er mir weh. Ich hasste ihn, und ich hasste es, von ihm gequält zu werden. Meine Mutter saß mit im Wartezimmer, später im Behandlungsraum, roch – das fiel in der Praxis immer richtig auf – nach Kuh und litt mit. Irgendwann kam ich in die Kreisstadt aufs Gymnasium, und weil ich sowieso stundenlang auf den Bus warten musste, meinte meine Mutter, ich könne jetzt auch dort, in Plön, zum Zahnarzt gehen. Das tat ich oft und gerne, denn ich verliebte mich in die Zahnarzthelferin.

Sie hieß Birgit, hatte einen blonden Pferdeschwanz und einen üppigen Busen, den ich warm und weich an meiner Schulter spürte, wenn sie mir den Speichel absaugte. Ich fühlte keinen Schmerz. Meine Nerven konzentrierte ich auf meine Schulter, die sich infolge der zarten Berührung stark erhitzte. Meine Zähne schrubbte ich nun viel und ständig, denn Birgit lobte mich, wenn ich in der Zeit zwischen den Besuchen bei ihr ordentlich geputzt hatte.

Dann kam der Schock. Mit einem Mal war Birgit fort. Sie hatte geheiratet und war weggezogen. Ich war erschüttert und heiratete meinerseits. Eine Frau mit wunderbaren Zähnen, die sie zum Glück dominant vererbte.

Ich bin noch Patient in der Plöner Praxis, seit 33 Jahren. Eine Zahnärztin mit polnischem Akzent hat die Praxis übernommen. Ich genieße, wie sie ihrer Helferin Diagnosen diktiert. Am schönsten klingt es, wenn sie „Extraktion“ sagt. Das sagt sie häufig. Danach hebelt sie mit einer Zange an meinen Zähnen herum, und es fängt an zu bluten. Aber mein Restgebiss sieht blendend aus.

Mittlerweile lebe ich mit meiner Frau und fünf Kindern auf meinem eigenen Bauernhof. In letzter Zeit war oft meine Zahnpasta leer, weil sich alle Bälger daran bedienten. Das hat nun ein Ende. Neuerdings kaufe ich ein Seniorenzahnpflegeprodukt für Leute über vierzig. Steht auch groß drauf. Seitdem habe ich meine Tube für mich allein. Der Nachwuchs steht nicht auf Zahnpasta für Zombies.

Der Autor ist Biobauer in Schleswig-Holstein Foto: privat