„Wir können nicht warten“

Peter Merseburger hat eine vorzügliche Biografie des „Spiegel“-Gründers Rudolf Augstein verfasst. Erstaunlich ist: Es hat Augstein nicht geschadet, dass er als Journalist oft falsch lag

VON JÜRGEN BUSCHE

Wer eine Biografie über einen Journalisten schreibt, hat mit der Tatsache umzugehen, dass Journalisten oft irren. Rudolf Augstein hat in seinem beruflichen und politischen Leben sehr oft geirrt. Sein Biograf Peter Merseburger lässt kaum einen wichtigen Fall aus. Das könnte der Grund sein, weshalb ihm eine gute Biografie gelungen ist und Rudolf Augstein in ihr als der Journalist erscheint, der zu Recht berühmt wurde.

Nicht zum wenigsten wegen dieser Biografie wird er unter den gebildeten Deutschen noch lange bekannt bleiben. Wer mit der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland in ihrem ersten halben Jahrhundert vertraut sein will, sollte dieses Buch kennen, denn Augstein war eine ihrer prägenden Figuren.

Das war er natürlich wegen der Spiegel-Affäre Anfang der Sechzigerjahre, wegen des Nachrichtenmagazins Der Spiegel, das seine Schöpfung war, indem es eben mitnichten zuerst ein Nachrichtenmagazin war, sondern ein kämpferisches Blatt, eine Zeitschrift, die Profil gewann, weil ihr Chefredakteur mit ungewöhnlicher Heftigkeit gegen die Politik des ersten Bundeskanzlers, Konrad Adenauer, stritt. „Ein Sturmgeschütz der Demokratie“ sollte der Spiegel nach einem Wort Augsteins sein. Für die historische Bedeutung eines Menschen ist das Opus operatum, das getane Werk, wichtiger als die Worte, die er dafür findet.

Von Sturmgeschützen wollten die meisten der jungen Leute, die für den unter dem Vorwurf des Landesverrats inhaftierten Journalisten demonstrierten, gewiss nichts wissen. Merseburger aber berichtet getreulich, dass dem kritischen Augstein die im Aufbau befindliche Bundeswehr viel zu lasch war, zu wenig an der alten Wehrmacht orientiert, die innere Führung ein Unding. Ja, er berichtet sogar, dass der ungewöhnlich junge Chefredakteur, als er noch mit dem ungewöhnlich alten Bundeskanzler auf gutem Fuße stand, diesem bei der Lancierung des Vorschlags zur Wiederbewaffnung half:

„Wir müssen was tun, wir können doch nicht abwarten, bis die Russen uns überfallen“, zitiert Merseburger seinen Helden aus einem Gespräch, das nach dessen Bekunden in Rhöndorf stattgefunden hatte. „Dat ist genau dat, was ich sage“, soll Adenauer geantwortet haben. Indes, er als Politiker könne sich dazu nicht äußern, nur ein Journalist sei frei genug, darüber zu schreiben: „Nehmen Sie die Frage der deutschen Divisionen. Wir müssen sie erst einmal ins Gespräch bringen und dann das Weitere abwarten.“ Merseburger dazu lakonisch: „Augstein bringt sie ins Gespräch.“

Kein Zweifel: Der Spiegel begann von einem publizistischen Standort rechts von der CDU, und dies nach dem Willen seines Chefredakteurs, nach Auswahl der Themen, nach wichtigen Mitarbeitern. Erst als ganz klar war, dass in der Bundesrepublik rechts von der Union kein Blumentopf zu gewinnen war, wurde ein neuer Standpunkt, links von der so lange regierenden Partei, bezogen. Was nicht bedeutete, dass Augstein sofort mitzog.

Als er Mitte der 50er-Jahre zum ersten Mal daran dachte, sich um ein Bundestagsmandat zu bewerben, wollte er dies als FDP-Kandidat tun, dies aber nicht in einem liberalen Landesverband, sondern bei den Adenauer-Gegnern in Nordrhein-Westfalen, die Bundespräsident Theodor Heuss als Nazi-FDP bezeichnete. Damals resignierte er, als die Wähler in Nordrhein-Westfalen die SPD/FDP-Koalition abwählten und der CDU eine absolute Mehrheit bescherten. Anfang der 70er-Jahre wurde er dann in den Bundestag gewählt: als FDP-Abgeordneter des Landesverbands Nordrhein-Westfalen, in dem sich wenig geändert hatte. Doch einmal drin, hatte er bald keine Lust mehr und gab das Mandat auf.

Merseburger bezeichnet solche Unternehmungen als Ausbruchsversuche. Davon beschreibt er einige. Es scheint, als habe Augstein manchmal darunter gelitten, nur mit dem Spiegel identifiziert zu werden. Er bewies Ehrgeiz als Historiker und hätte gern eine große Tageszeitung gegründet. Aber das zu wagen, dazu war er zu sehr Realist. Es blieb beim Spiegel, den er doch geliebt hat – und in dem er am Ende von seinen Redakteuren verehrt wurde, auch wenn er Jahrzehnte hindurch vorgelebt hatte, dass er das nicht mochte.

Man könnte eine scholastische Diskussion darüber führen, ob Augstein in seinen politischen Urteilen – zumeist Fehlurteilen – Realist war oder das Gegenteil davon. Die Gegnerschaft zu Adenauer beruhte auf dem Vorwurf, die Politik des Kanzler verhindere die Wiedervereinigung, die Augstein unbedingt wollte.

Als es die Union war, die als einzige Bundestagspartei an dem Ziel der Wiedervereinigung festhielt, wurde sie dem Spiegel dadurch nicht lieber. Als Kohl dann das Kunststück diplomatisch gelang, gratulierte der Herausgeber Augstein dem vorher unermüdlich geschmähten Kanzler doch und entließ seinen Chefredakteur, der nicht hatte „wiedervereinigt“ werden wollen.

Wo Augsteins Irrtümer krass waren, werden Merseburgers Darlegungen etwas steif. „Historisch“, notiert er bei zwei Anlässen, hätten die Politiker, die nicht auf Augstein hörten, wohl recht gehabt, aber „genau wissen“ habe man es eben nicht gekonnt. Nun, das ist wohl oft so. Deshalb ist ein erfolgreicher Politiker auch etwas anderes als ein erfolgreicher Journalist.

Nicht in allen, aber doch in vielen Fragen der deutschen Politik nach 1945 hat Rudolf Augstein falsch geurteilt. Das hat seinem Ansehen bei den Deutschen nicht geschadet. Es ist, solch ein Vergleich sei einmal gestattet, wie mit Perikles und der attischen Komödie.

Der bedeutendste Staatsmann der Athener wurde von den Komödienschreibern kontinuierlich aufs schärfste angegriffen. Da wollte Perikles die Komödien verbieten. Das untersagten ihm die Bürger der Stadt nachdrücklich, aber dennoch wählten sie ihn immer wieder. Sie wollten von dem Besten regiert werden, aber ihn immer zugleich attraktiv kritisiert sehen. Für die Bundesrepublik heißt das: Konrad Adenauer, Willy Brandt, Helmut Schmidt, Helmut Kohl auf der einen Seite, Rudolf Augstein auf der anderen.

Peter Merseburger: „Rudolf Augstein. Biografie“. Deutsche Verlagsanstalt, München 2007, 560 Seiten mit 61 Schwarz-Weiß-Abbildungen, 29,95 €