„Geburtsstätte der Industrie“

Rauschende Wälder ersetzen rauchende Schlote, Bäche glucksen, wo vordem Schmelzöfen und Schmieden schmauchten. Nicht nur kulturstiftend, sondern auch schön: technische Denkmäler im britischen Ironbridge Gorge

Nordwesteuropa war die Wiege der industriellen Revolution. Mit dem modernen Strukturwandel sind viele Teile Europas deindustrialisiert. Geblieben sind Arbeitslosigkeit und Verfall. Das Europäische Netzwerk für Industriekultur im ersten ERIH-Projekt unter Interreg II C will dieses kulturelle Erbe erhalten. Im Rahmen dieses Projekts wurde ein Masterplan entwickelt, der konkrete Ideen und Aktivitäten für die Vermarktung der europäische Industriekultur benennt. Das gemeinsame Ziel ist, die europäischen Standorte der Industriekultur als Antrieb für die Entwicklung von Regionen zu nutzen, die oftmals vom wirtschaftlichen Verfall bedroht sind.

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VON LORENZ TÖPPERWIEN

1709. Die Annalen der Weltgeschichte verzeichnen einen Schlachtensieg Peters des Großen. Manche erwähnen noch Johann Maria Farina, der in Köln die älteste Parfümfabrik der Welt gründet. Kein Wort dagegen zu Abraham Darby, Kopf der Coalbrookdale Company im Flusstal des Severn bei Birmingham. Dem findigen Quäker gelingt es 1709 erstmals, brauchbares Roheisen mit Hilfe von Koks statt Holzkohle auszuschmelzen. Eine technische Großtat! Wahrscheinlich sogar der Startschuss zur industriellen Revolution!

Aber waffenklirrende Triumphzüge und Kölnisch Wasser erregen mehr Aufsehen. Selbst die englische Eisenindustrie brauchte geschlagene 50 Jahre, bis sie von der bahnbrechenden Erfindung aus Coalbrookdale Notiz nahm. Danach allerdings lief ohne Koks gar nichts mehr.

Mittlerweile wird viel über Abraham Darby gesprochen. Besonders Paul Gossage führt den Namen häufig im Munde, schon von Berufs wegen. Er ist Marketingchef des 1967 gegründeten Ironbridge-Gorge-Museumsverbandes. Ironbridge Gorge, so nennt sich das Tal des Severn heute, genauer: der Abschnitt zwischen Coalbrookdale und dem alten Verladehafen Coalport. „Geburtsstätte der Industrie“ lautet einer der Werbesprüche auf den touristischen Broschüren, „Tal der Erfindung“ ein anderer. „Wir wollen“, sagt Paul Gossage und meint das ganz pragmatisch, „unsere Besucher zum industriellen Erbe bekehren.“ Wichtigste Voraussetzung dafür ist, dass die Schwerindustrie die Gegend längst verlassen hat. Rauschende Wälder ersetzen rauchende Schlote, Bäche glucksen, wo vordem Schmelzöfen und Schmieden schmauchten. Das muss auch so sein. Denn die frühen Fabriken verlangten alles an einem Ort: Wasser als Antriebskraft, Holz für die Feuerung der Öfen, Erzlagerstätten als Rohstoffquellen. Später war das anders. Da setzte Dampftechnik die Maschinen in Gang, und die Industrie suchte die Nähe von Kanälen und Eisenbahnen, um zu bekommen, was sie brauchte. Die Natur blieb sich selbst überlassen.

Im Severn-Tal ist sie so idyllisch, dass die Ortsansässigen schon darüber diskutieren, ob das noch authentisch sei oder nicht vielmehr die industrielle Vergangenheit verfälsche. Insgesamt zehn Museen und diverse industriegeschichtliche Monumente erwarten den Besucher. Das ist in erster Linie ein logistisches Problem. Wer genug Zeit mitbringt, wird auf die eigens eingerichtete Buslinie zurückgreifen, die zwischen den einzelnen Standorten verkehrt. Beispielsweise zur Ruine jenes Hochofens, in dem Abraham Darby 1709 das Zeitalter des Kokses einläutete. Auf einen Streich befreite er damit die Eisenschmelzen von dem immer knapper werdenden Brennstoff Holzkohle und bereitete zugleich der Massenproduktion den Weg. Verkokste Steinkohle war billiger, leistungsfähiger und eignete sich, wie Darby rasch herausfand, ideal zur Herstellung von Gusseisen.

Doch wie das so ist mit Ruinen, ihre wahre Bedeutung bleibt unbedarften Augen oft verborgen. Das trifft umso mehr auf technische Denkmäler zu. Dieses hier legten Industriearchäologen frei, bevor es den Begriff Industriearchäologie überhaupt gab. Für seine angemessene Einordnung braucht es einen Michael Darby, der die Reste des Hochofens ohne viel Federlesens in einem Atemzug mit Stonehenge und Westminster Abbey nennt. Vielleicht muss er das tun, als direkter Nachkomme des alten Abraham Darby. Fest steht: Mit Michael Darby wird die traditionsreiche Fabrikantendynastie nach 300 Jahren verlöschen. Michael Darby ist Quäker wie seine Vorfahren, arbeitete in seinem aktiven Berufsleben als Eisengroßhändler und war schon 1959 dabei, als das von seinem Vater geplante Coalbrookdale-Museum Eröffnung feierte. Seitdem ist sein Engagement für die regionale Industriekultur ungebrochen.

Deren Kennzeichen ist die Vielfalt. So entwickelt sich Ironbridge Gorge im 19. Jahrhundert zu einer Hochburg der Fliesen- und Porzellanherstellung. Auch diese Tradition wird museal gepflegt und für kreative Besucher mit Workshops garniert. Die angelsächsische Vorliebe für das Theater verrät das Freilichtmuseum Blists Hill, das an der Stelle längst aufgegebener Schmelzöfen und Kohlezechen eine komplette viktorianische Kleinstadt aus dem Boden gestampft hat.

Viele der Gebäude sind Rekonstruktionen historischer Vorbilder, andere wurden hierher verlegt, weil sie an ihrem Ursprungsort von Abriss bedroht waren. Dazu zählt als besonderes Kleinod die weltweit wohl letzte noch funktionsfähige Fabrik für Schmiedeeisen. Größerer Beliebtheit erfreut sich nur die Eisenbrücke, der Ironbridge Gorge den Namen verdankt. Sie ist die erste Brücke der Geschichte, die ganz aus Metall besteht. Abgesehen davon sieht sie einfach hinreißend aus. Das liegt weniger an ihrer jüngsten Restaurierung als an der zierlichen Konstruktion. Nur drei Monate brauchte Abraham Darby III., um die schlanken Einzelteile, die er zuvor im großväterlichen Ofen von Coalbrookdale mit großer Kunstfertigkeit gegossen hatte, an Ort und Stelle zusammenzusetzen und aufzurichten. Das war 1779. Kaum zwei Jahre später, am Neujahrstag 1781, wurde die Brücke feierlich eröffnet. Sogleich pilgerten Scharen von Bewunderern herbei: Ingenieure, Erfinder, Künstler, Spione oder einfach nur Schaulustige. Viele von ihnen waren der festen Überzeugung, ein Weltwunder vor sich zu haben. Zeitgenossen sprachen vom außergewöhnlichsten Ort des Erdballs. Dieses Image soll heute nach Möglichkeit wiederbelebt werden. Es ist daher kein Zufall, dass das Severn-Tal 1986 als eine der ersten Industrieregionen von der Unesco zum Weltkulturerbe erklärt wurde. Das honoriert auch die Europäische Route der Industriekultur, die Ironbridge Gorge zu ihren vitalsten Schauplätzen zählt.

Fremdenführer erzählen immer wieder die Anekdote, dass es Abraham Darby III., der als Quäker auf jegliche bildliche Selbstdarstellung verzichten musste, am Ende doch gelang, sein Konterfei in dem Brückenbau zu verstecken. In der Tat erkennt, wer von schräg unten zum Scheitelpunkt der Brücke hinaufsieht, die Silhouette eines Gesichts. Tag für Tag legen nun Besucher die Köpfe schief, um diese „Signatur“ zu erspähen. Sie kommen, um ein technisches Wunderwerk zu sehen. Da wiederholt sich Geschichte.