die taz vor 18 jahren über erste anzeichen von realismus im sed-politbüro
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Die ersten Tautropfen sind selbstverständlich tausend Mal wichtiger als tausend Meter Packeis. Das Politbüro hat den zweifelhaften Vorteil, daß nach der teutonischen Abwehrschlacht gegen eine Welt von Konterrevolutionären das erste Zeichen einer allerhöchsten Nachdenklichkeit zur Sensation wird. In der „Erklärung“ des Politbüros gibt es neben vier Spalten der bekannten rituellen Muster fast eine Spalte realer Sprache. Der Katalog der DDR-Reformthemen, hüben wie drüben inzwischen deckungsgleich, wird positiv, aber gewunden angesprochen. Selbstkritik wird akzeptiert, dazwischen ein einfacher Hauptsatz in einem Parteidokument: „Wir stellen uns der Diskussion.“ Der Syntax nach ein Gesprächsangebot ohne Vorbedingungen. Ist das das Signal, auf das gewartet wird?

Es fällt auf, daß der Beifall und die Erleichterung in der Bundesrepublik über das Zeichen der Reformfähigkeit der DDR lauter als in der DDR. Ganz abgesehen davon, daß die Partei an Führungsanspruch und an traditionellen Definitionen von Staatsfeindlichkeit festhält, fehlt auch jeder Hinweis auf Verbindlichkeit und zeitlichen Frist des Dialogs. Das Dokument hält sich in der Grauzone zwischen Zeitgewinn und erstem Schritt. Aber es ist auch unter diesem Gesichtspunkt ein Papier des Kompromisses, ein Vorauszeichen von möglicherweise sehr schnellen Entwicklungen innerhalb des Parteiapparates. Dennoch wird es eine Wirkung haben. Denn es legitimiert schon bestehende Dialogansätze auf bezirklicher Ebene. Daß dieser Spielraum bestätigt wird, ist wahrscheinlich die wichtigste Seite des Dokuments, der Tautropfen eben.

Die Opposition aber wird aus dem Papier begreifen, daß gegenwärtiger nichts falscher wäre, als der Massenmobilisierung entgegenzuarbeiten. Es hat eine antiautoritäre Bewegung begonnen, der es nicht mehr reicht, daß die Oberen aus Angst um die Macht jetzt reden wollen. Sie müssen auch reden können. Klaus Hartung, taz v. 13.10.1989