Erfroren auf hoher See

MITTELMEER Aufgabe der Rettung von Flüchtlingen führt zu neuen Tragödien. Doch die EU will kein Geld zur Seenotrettung geben

„Wir sind zur Situation vor dem 3. Oktober 2013 zurückgekehrt“

BÜRGERMEISTERIN GIUSY NICOLINI

AUS ROM MICHAEL BRAUN

29 Tote hat eine Flüchtlingstragödie gefordert, die sich vom Sonntag auf den Montag im Mittelmeer zwischen Libyen und Lampedusa ereignete. Die Opfer, alle Männer, sind an Bord erfroren, die ersten auf ihrem Schiff, der Großteil dann allerdings auf den Patrouillenbooten der italienischen Küstenwache.

Insgesamt 105 Männer waren am Sonntag von der libyschen Küste aus Richtung Norden auf einem offenen Holzkahn in See gestochen. Schon kurz nach der Abfahrt jedoch havarierte das Boot, während die Menschen an Bord schutzlos der extremen Witterung ausgesetzt waren. Acht Meter hohe Wellen, kräftiger Wind, und eisige Temperaturen – binnen Kurzem hatten die durchnässten Passagiere mit Unterkühlungen zu kämpfen.

Schon am Sonntagnachmittag setzten sie zwar mit einem Satellitentelefon einen Notruf an die italienische Küstenwache ab. Die dirigierte zwei Frachter an die Unglücksstelle. Die Handelsschiffe konnten aber angesichts des hohen Seegangs nichts ausrichten, da bei zu großer Annäherung das Flüchtlingsboot zu kentern drohte. Parallel schickte die Küstenwache zwei Patrouillenboote von Lampedusa aus los, die jedoch mehr als 100 Seemeilen zurücklegen mussten und erst um 22 Uhr bei dem havarierten Kahn eintrafen. Sieben der Flüchtlinge waren zu diesem Zeitpunkt erfroren, weitere 19 befanden sich in kritischem Zustand.

Doch ebenso wie die anderen mussten sie die stundenlange Fahrt nach Lampedusa weiter auf offenem Deck verbringen, da die Patrouillenboote keinen Schutzraum boten. Angesichts des miserablen Wetters trafen die Boote der Küstenwache erst am späten Montagnachmittag im Hafen Lampedusas ein; in der Zwischenzeit waren 22 weitere Männer den Kältetod gestorben.

Das UN-Flüchtlingshilfswerk UNHCR, die Präsidentin des italienischen Abgeordnetenhauses, Laura Boldrini, und die Bürgermeisterin Lampedusas, Giusy Nicolini, äußerten heftige Kritik an der italienischen Regierung. Dies sei die Konsequenz daraus, dass Italiens Rettungsmission Mare Nostrum eingestellt worden sei, twitterte Boldrini. „Wir sind zur Situation vor dem 3. Oktober 2013 (damals starben 368 Menschen vor Lampedusa) zurückgekehrt“, sagte Nicolini, „mit der Einstellung von Mare Nostrum war vorherzusehen, dass die Toten zunehmen würden.“

Mare Nostrum sah den Einsatz italienischer Marineschiffe bis nah an die libyschen Hoheitsgewässer vor. Am 1. November 2014 stellte Italien diese Mission angesichts der hohen Kosten von etwa 100 Millionen Euro pro Jahr ein; an ihre Stelle trat die „Triton“-Mission unter der Ägide der europäischen Grenzagentur Frontex. Die EU hat nicht die Absicht, Mare Nostrum neu aufzulegen – im Gegenteil: In einem Brief an die EU-Kommission fordern die Innenminister Frankreichs und Deutschlands, Lothar de Maizière und Bernard Cazeneuve, schärfere Maßnahmen gegen Schlepper, eine neue Überwachungsoperation und mehr Geld für Frontex. Von Seenotrettung ist da keine Rede.

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