Die Entflechterin

Als sich die Lüge einschlich, sei sie weg aus Moskau. In den 1990ern war das, da zog die tatarisch-russische Komponistin Sofia Gubaidulina ins schleswig-holsteinische Appen. Sie habe nicht mehr komponieren können in der Heimat, weil innere und äußere Ruhe gefehlt habe.

Die aber braucht die Komponistin, die soeben 80 wurde, weshalb ihr am Sonntag ein Konzert in Hamburg und im November eine Festwoche in Hannover gelten. Vielleicht auch deshalb, weil ihr Leben reich war an Hürden: Unter Stalin zunächst noch mit Stipendien bedacht, fiel ihre oft religiös motivierte Musik in der Sowjetunion bald in Ungnade, durfte nicht aufgeführt werden.

Zeitweise hielt sich Gubaidulina mit Filmmusiken über Wasser. Erst in den 80ern kam die Wende: Der Geiger Gidon Kremer, dem sie – wie etwa auch Anne-Sophie-Mutter – ein Stück gewidmet hatte, lud sie auf Festivals ein und machte sie im Westen bekannt. Heute zählt sie neben Alfred Schnittke und Edison Denissow zu den bedeutendsten zeitgenössischen KomponistInnen aus der Ex-Sowjetunion.

Ihre Musik ist dabei weder einfach noch eindeutig: Einerseits mischt Gubaidulina westliche Orchesterapparate mit tatarischen Folklore-Instrumenten, etwa dem Bajan, einem Knopfakkordeon. Andererseits ist sie mal ironisch – in ihren „Abzählliedern für Kinder“ –, mal mystisch, wenn sie Visionen Hildegards von Bingen vertont. Ihr tatarischer Großvater ist noch Mullah gewesen, sie selbst ist orthodoxe Christin.

„Komponieren“, sagt die schmale Frau mit den immer etwas schelmischen Augen, „ist für mich ein religiöser Akt.“ Musik komme aus der Stille. Die aber sei nicht leer, sondern hoch verdichtet. „Ein Stück habe ich irgendwann in seiner Urform quasi als Ganzes im Kopf.“

Die Kunst sei, dies zu entflechten und in ein zeitliches Nacheinander, sprich: in Noten zu übersetzen. Das gelinge ihr am besten nachts, sagt Gubaidulina. So wie Rilke, dem dunklen, mystischen Dichter, den sie ganz besonders verehrt. PS