: Jahrhundertprojekt mit Ladehemmung
BRASILIEN Gegen die Übermacht privater Medienimperien sendet TV Brasil seit vier Jahren Qualitätsfernsehen. Der Aufbau eines öffentlich-rechtlichen Systems stockt aber
AUS BRASÍLIA GERHARD DILGER
Vergessen Sie nicht, wir führen hier einen langjährigen Volkskampf“, sagt Tereza Cruvinel mit einem Augenzwinkern. Den Guerillajargon verwendet die temperamentvolle 56-Jährige, Chefin des Kommunikationsunternehmen Brasilien (EBC), nur halb ironisch: 2007 hat der damalige Staatspräsident Luiz Inácio Lula da Silva die die langjährige Mitarbeiterin von Globo, dem größten brasilianischen Medienunternehmen, dazu auserkoren, den Aufbau eines landesweiten öffentlich-rechtlichen Qualitätssenders zu leiten. Und die Widerstände sind enorm.
Seichte Gegner
TV Brasil, das EBC-Flaggschiff, ist der ehrgeizigste Versuch der brasilianischen Mitte-links-Regierung, die Vorherrschaft der Kommerzsender ein wenig zu beschneiden. Seit der Einführung des Fernsehens 1950 dominieren die Privaten, allen voran das Globo-Imperium. Sie zeigen seichte Shows, mehr oder weniger inspirierte Telenovelas, Gewaltorgien in den Nachrichten, Fußball und ein Werbetrommelfeuer.
Dieses Angebot spiegelt die Interessen der Mächtigen wider – oft sind die Konzessionsinhaber in anderen Wirtschaftsbranchen, in der Politik oder in evangelikalen Kirchen aktiv. Kritiker sprechen von „medialem Großgrundbesitz“, und das Bild stimmt für ganz Lateinamerika. Doch seit dem „Linksruck“ der letzten Jahre streben die Regierungen – auch in Argentinien, Bolivien, Ecuador und Venezuela – durch die Stärkung öffentlich-rechtlicher, staatlicher oder kommunitärer Medien mehr Vielfalt an.
TV Globo kommt mit seinen regionalen Ablegern auf einen Marktanteil von gut 60 Prozent. Eine Reglementierung des Mediensektors, wie sie die Verfassung von 1988 anmahnt, fehlt bis heute. Präsident Lula und seine Nachfolgerin Dilma Rousseff setzten das Thema wegen des Drucks aus der eigenen Partei und den sozialen Bewegungen auf die Tagesordnung, doch erst in Lulas fünftem Regierungsjahr wurde TV Brasil gegründet.
Vor kurzem noch war die EBC-Zentrale in einem betagten mehrstöckigen Gebäude in Brasília untergebracht – wegen Etatkürzungen geht der Umzug in einen weitläufigen Komplex nur schleppend voran. Zum Staatsbetrieb gehören auch noch die Nachrichtenagentur Agência Brasil und acht öffentlich-rechtliche Radiosender.
„Anders als die BBC oder die deutschen Sender sind wir fast ausschließlich von Haushaltsmitteln abhängig“, bedauert Tereza Cruvinel. In manchen Ländern Europas fließe bis zu 0,3 Prozent des Bruttoinlandsprodukts in die Öffentlich-Rechtlichen, schrieb die Tageszeitung Folha de São Paulo, 100-mal so viel wie in Brasilien. Der EBC-Jahresetat liegt bei umgerechnet 165 Millionen Euro.
Die Zwischenbilanz nach vier Jahren ist gemischt: Tagsüber ragt das sechsstündige Kinderprogramm heraus. Abends gibt es Dokumentar- und Spielfilme, auch aus brasilianischen Regionen abseits der Achse RioSão Paulo, Lateinamerika oder Afrika. Hinzu kommen etablierte Politsendungen der TV Cultura aus São Paulo. Damit ist TV Brasil zumindest eine Ergänzung zu den Kommerzsendern.
Dröge ist die politische Berichterstattung. Hier will man offenbar keine neuen Fronten eröffnen. In den Zeitungen wurde TV Brasil oft als „TV Lula“ verspottet, die großen Kirchen sind misstrauisch. Die Lobby der Pfingstkirchler zog gegen die Entscheidung des Aufsichtsrats vor Gericht, drei Kirchensendungen abzusetzen, die ihm nicht repräsentativ genug waren – jetzt soll es auch Sendeplätze für weitere Religionen geben.
Mieser Empfang
Bis heute erreicht TV Brasil nur einen Bruchteil aller brasilianischer Haushalte. Das liege vor allem am technischen Rückstand auf die Privaten, sagt Cruvinel: „Von den drei Sendern aus Rio, Brasília und Maranhão, aus denen TV Brasil hervorgegangen ist, haben wir völlig veraltete Transmissoren, Antennen oder Produktionsanlagen auf analoger Basis geerbt.“ Entsprechend mies ist der Empfang.
Das analoge Sendespektrum ist völlig von den Privatsendern besetzt, selbst bei eklatanten Verstößen gegen die Vorschriften werden die auf 15 Jahre vergebenen Konzessionen verlängert. In São Paulo, wo TV Brasil neue Anlagen installiert hat, blieb ihm nur Kanal 62. In den übrigen 23 Staaten kann man den Sender analog nur per teurem Kabel oder Satellit sehen – oder im Internet.
Bis zur angestrebten Digitalisierung werden noch Jahre vergehen. Die Installation der entsprechenden Infrastruktur für die Öffentlich-Rechtlichen in ganz Brasilien soll über eine Milliarde Euro kosten, mehr als sechs EBC-Jahresetats. Für die Fußball-WM 2014 und Olympia 2016 gibt es Milliardenzuschüsse, aber nicht unbedingt im Medienbereich – lukrative Sportübertragungen liegen seit jeher fest in der Hand von TV Globo und anderen Privaten.
International steht TV Brasil klar im Schatten des Mehrstaaten-Nachrichtensenders Telesur aus Caracas, der sich ähnlich wie al-Dschasira langsam zu einer Alternative zu CNN oder BBC mausert. Das parallel von Brasilien lancierte Südamerika-Projekt „TV Integración“ mit Sendungen auf Spanisch und Portugiesisch ist hingegen passé. Mit einem ähnlichen Ansatz wie die Deutsche Welle richtet sich nun „TV Brasil Internacional“ an Auslandsbrasilianer, aber auch an Brasilien-Fans. Das portugiesischsprachige Programm kann schon in 69 Ländern empfangen werden, vor allem in Afrika.
„Schon allein aus finanziellen Gründen sind wir stark von der Regierung abhängig“, sagt Tereza Cruvinel, „bei öffentlich-rechtlichen Sendern, die so spät gegründet werden, geht das wohl gar nicht anders.“ Selbst bei der Besetzung des 22-köpfigen Aufsichtsrats, in dem die „Zivilgesellschaft“ 15 Mitglieder stellt, hat Präsidentin Dilma Rousseff das letzte Wort. Es ist ein offenes Geheimnis, dass auch bei TV Brasil bei manchen Posten das Parteibuch mehr zählt als die Qualifikation. Neben einer besseren finanziellen Ausstattung mahnt ein neuer Unesco-Bericht daher eine „substanzielle“ Stärkung der Unabhängigkeit an.
Große Hoffnungen
Auch für freie Produzenten sind die technischen Engpässe, bürokratische Hürden und die übermäßige Politisierung ein Ärgernis. Doch der Dokumentarfilmer Leonardo Dourado lobt die „echten Anstrengungen, das Programm zu verbessern“, und das „republikanische Anliegen“, der Bevölkerung andere Inhalte zugänglich zu machen. „Mit der Digitalisierung ist das nur noch eine Frage der Zeit“, glaubt er.
Auch die stärkere Berücksichtigung nationaler Produktionen habe sehr gute Chancen, meint Dourado: „Da die großen Telefongesellschaften auf den audiovisuellen Markt drängen, wird eine Regulierung zugunsten einheimischer Inhalte, wie sie anderswo selbstverständlich ist, auch bei uns unabwendbar.“ Bei TV Brasil beträgt der Anteil brasilianischer unabhängiger Produktionen erst 12 Prozent, und auch die Eigenproduktionen liegen bei nur 45 Prozent. Beides soll ausgebaut werden.
Im November wird Tereza Cruvinel von Nelson Breve abgelöst, einem loyalen Kader der Arbeiterpartei. Dramatische Veränderungen erwartet niemand, die Mühlen der Bürokratie mahlen langsam. Die scheidende EBC-Vorsitzende zieht ein positives Fazit: „Vor Jahren träumten wir von einem öffentlich-rechtlichen Sender, der unabhängig ist und technisch modern, kreativ und innovativ, aber auch offen für Vielfalt und Tradition“, sagt Cruvinel, „dem sind wir ein bisschen nähergekommen.“
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